Wagner in Tel Aviv [2] Irad Atir
13.06.2013

Israelische Wagner-Stigmata aufbrechen – ein Interview mit Irad Atir
Israels Haltung gegenüber Wagner resultiert aus völliger Unkenntnis von Wagner und dessen Lehre, meint Irad Atir, der über Wagner und Israel promoviert hat und seine Erkenntnisse an die israelische Öffentlichkeit herantragen möchte. Atir spricht in diesem Zusammenhang auch von Theodor Herzl, der Wagner sehr bewundert hat und einmal gesagt haben soll, dass ihm an Tagen, an denen keine Wagner-Opern aufgeführt werden, die Inspiration für die Arbeit an seinem Buch Der Judenstaat fehle. Als Nationalhymne des neu zu gründenden Staates habe Herzl sogar Wagners Tannhäuser-Ouvertüre in Erwägung gezogen. Die Hälfte von Wagners Werken seien ausgerechnet von Nazi-Deutschland boykottiert worden.
----------
Irad Atir, wie kommt ein 30-jähriger Israeli auf die Idee, seine Doktorarbeit ausgerechnet über Richard Wagner zu schreiben?
Seit meiner Kindheit befasse ich mich mit Musik. Dabei haben mich Opern immer besonders interessiert. Ich bin nicht nur ein Musikwissenschaftler, der über Wagner promoviert hat, sondern auch Pianist, Komponist und unterrichte Komposition und Dirigieren.
Wagner ist für mich immer ein ganz besonderer Künstler gewesen und dass nicht nur wegen seiner musikalischen Fähigkeiten, sondern weil er ein Universalgenie, ein hoch begabter Mensch, ein totaler Künstler ist, der sich in vielen Bereichen betätigt hat. Wagner hat komponiert, Texte geschrieben, Regieanweisungen erteilt und das Festspielhaus in Bayreuth entworfen, in dem bis heute nur Wagner-Opern aufgeführt werden, für die es ursprünglich errichtet worden ist. Wagner hat mehr Texte, Artikel und Kritiken als jeder andere Komponist verfasst. Seine theoretischen Schriften umfassen 16 Bände. Wagners Kunst besteht also nicht allein aus Musik, sondern in der Formulierung einer eigenen sozial-politischen Ideologie. Insbesondere die israelische Haltung gegenüber Wagner hat mich motiviert, diesem Thema nachzugehen und es tiefgründig zu erforschen. Ich wollte herausfinden, ob die israelische Haltung Wagner gegenüber tatsächlich gerechtfertigt ist.
Zu welcher Schlussfolgerung sind Sie gekommen? Ist die israelische Position gerechtfertigt?
Israels Haltung basiert auf der fürchterlichen Behauptung, Wagner sei Nazi gewesen. Dieser Meinung sind die meisten Israelis, die überhaupt nicht wissen, dass Wagner bereits sechs Jahre vor Hitlers Geburt verstorben ist. Die These von Wagner als Antisemit ist eine Verflachung der Realität. Neben Wagners Kritik am Judentum bin ich in vielen seiner Schriften auch auf harsche Kritik am deutschen Volk wie auf eine vielschichtige Sicht der Juden gestoßen. Im hohen Alter hat Wagner beispielsweise gesagt, dass er, wenn er noch einmal über Juden schreiben würde, nichts Negatives über sie sagen würde. Die Juden seien nur zu früh zu den Deutschen gekommen, in einer Zeit, als diese noch nicht bereit gewesen seien, jüdische Elemente aufzunehmen.
1881 hat Wagner zum Bayernkönig Ludwig II. gesagt, dass er eine humane Behandlung der Juden begrüße. Wagner hat sich nie antisemitisch verhalten, selbst wenn er sich in seinen Schriften gegen das Judentum äußert. Ganz im Gegenteil. Wagner hat mit Juden zusammengearbeitet und viele seiner Anhänger sind Juden gewesen, die ihn finanziell und künstlerisch unterstützt haben. Vor seiner Abhandlung Das Judentum in der Musik wird man bei Wagner keine antisemitischen Äußerungen finden. Vielmehr habe er zwei jüdische Komponisten, Felix Mendelssohn Bartholdy und Giacomo Meyerbeer, in höchsten Tönen gelobt. Sie sind für ihn in jeder Hinsicht Deutsche gewesen. Auch nach der Veröffentlichung von Das Judentum in der Musik wird Wagner weiter von beiden, vor allem aber von Mendelssohn, beeinflusst und macht aus seiner Verehrung für ihn keinen Hehl. Wagner zitiert Mendelssohn in seinen Opern, selbst bei urdeutschen Motiven. Man soll Menschen immer an ihren Taten und nicht an ihren Worten messen. Und Wagners Verhalten gegenüber Juden war alles andere als antisemitisch. Er hat sich sogar zweimal geweigert, eine antisemitische Deklaration zu unterschreiben, die Reichskanzler Bismarck vorgelegt worden ist und die Einschränkung jüdischer Rechte im Reich gefordert hat. Wagner hat sich auch geweigert, eine antisemitische Zeitung finanziell zu unterstützen. Seinem jüdischen Intendanten, Angelo Neumann hat er 1881 gesagt, dass ihn vieles von der antisemitischen Bewegung seiner Zeit trenne und er an einer Abhandlung arbeite, die dies klar zum Ausdruck bringen werde, damit sein Name nicht wieder mit dieser Bewegung in Zusammenhang gebracht werde.
Noah Klieger beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Wagner und kennt seine Schriften. Er sieht in Hitler den ausführenden Arm von Wagners rassistischer Theorie. Hätte Wagner einige Jahre später gelebt, davon ist Klieger überzeugt, wäre er einer der Unterstützer des millionenfachen Mordes an den Juden gewesen. Was halten Sie davon?
Kliegers Ansicht, dass Wagner die Nazis unterstützt hätte, ist meiner Meinung nach falsch. Wenn Wagner sich schon geweigert hat, diese politische Deklaration zu unterzeichnen, dann hätte er auch die Nazis nicht unterstützt, was ja deutlich weiter gegangen wäre. Wagner hätte auf die vielen Kontakte zu Juden, die mit ihm gearbeitet haben, nicht verzichtet. Ich nenne nur Hermann Levi. Wagner hat darauf bestanden, dass er die Uraufführung seiner letzten Oper Parsifal dirigiert. Zusammen mit einem weiteren Juden, Heinrich Forges, ist Levi einer der Sargträger bei Wagners Begräbnis gewesen.
Hermann Levis Äußerungen über Wagner sprechen für sich. Für ihn ist Wagner einer der besten und feinsten Menschen gewesen, was viele seiner Mitmenschen nicht verstanden haben, weil sie Wagners Spötteleien zu ernst und wörtlich genommen haben. Für Wagner ist es selbstverständlich, ja offenkundig gewesen, dass dies Spötteleien waren. Der große Goethe sei nicht besser gewesen. Erst zukünftige Generationen werden verstehen, meint Levi, was für ein großer Künstler Wagner gewesen ist. Zu Wagners Zeiten wissen das nur diejenigen, die ihm am nächsten gewesen sind. Levi hat Gott tagtäglich für die Nähe zu Wagner – der großen Chance seines Lebens - gedankt.
In seinen Opern stellt Wagner die komplexen Beziehungen zwischen Deutschen und Juden dar und es gibt Gute und Schlechte auf beiden Seiten. Wagner hatte die Vision einer klassenlosen, freien Welt. Klieger bringt Wagner mit der Rassentheorie in Verbindung, wobei Wagner das Judentum nicht bloß als Religion gesehen habe, sondern als gesellschaftliche Kategorie, als eine Lebensform. Juden, die an ihrem Judentum festgehalten haben, hat er als Gefahr angesehen, aber die Juden, die bereit gewesen sind, in der deutschen Gesellschaft aufzugehen, hat er willkommen geheißen. Gegen Ende seiner Schrift Das Judentum in der Musik führt Wagner das Beispiel des Literaturkritikers Ludwig Börne an, der sich vom Judentum "losgesagt" hat und taufen ließ. Für mich ist völlig klar, dass Wagner nicht an die physische Vernichtung der Juden, sondern an die Assimilation der Juden in der deutschen Gesellschaft gedacht hat. Das hat er sich gewünscht.
Hat es also den Falschen erwischt?
Insbesondere seit dem Holocaust sind Juden sehr empfindlich. Jede Kritik am Judentum ist Antisemitismus oder Nazismus – ganz gleich in welcher Zeit sie erfolgt. In Israel gibt es Menschen, die Wagner nicht wegen seines Antisemitismus boykottieren, sondern weil er zu einem Symbol geworden ist oder man die Gefühle der Überlebenden nicht verletzen wolle. Diese Gefühle werden aber mit falschen Informationen und Mythen gespeist. "Wagner als Symbol" - das lässt sich widerlegen. Hitler hat Wagner anfangs bewundert und sich von ihm beeinflussen lassen. Erst mit der Zeit hat er Wagners eigentliche Botschaft verstanden, worauf er 1939 befahl, Parsifal nicht mehr aufzuführen, da ihm die Oper zu religiös und christlich war. Noch weniger behagte Hitler das Thema der Erlösung der Menschheit durch Versöhnung und Mitleid. 1942 gab Hitler Weisung, auch den Ring der Nibelungen nicht mehr aufzuführen, nachdem er begriffen hat, dass es dort um das Ende von Tyrannei, der Herrschaft der Götter, ging. Die Götterdämmerung scheint ihm wie der Zusammenbruch seines eigenen Reiches. Schon als Provokation hat der Alliierten-Rundfunk der BBC Die Götterdämmerung als Symbol für den Zusammenbruch des Dritten Reiches gespielt. In Deutschland wurden damals also fast die Hälfte von Wagners Werken boykottiert, was die Symbolfunktion Wagners in Frage stellt.
Theodor Herzl war ein eingeschworener Verehrer Wagners. An Tagen, an denen keine Wagner-Opern aufgeführt worden sind, soll es ihm an der Muse gefehlt haben, sein Buch Der Judenstaat zu schreiben. Als Nationalhymne des neuen Staates hat Herzl an die Ouvertüre von Wagners Tannhäuser gedacht. Auf dem zweiten Zionistischen Kongress 1898 wurde neben anderen Musikstücken auch Tannhäusers Phantasien gespielt. Es ist durchaus denkbar, dass Herzl von Wagners Gedanken, wie beispielsweise der Ausgrenzung von Juden, beeinflusst war.
Wer Wagner mit unterschiedlichen Ideologien in Verbindung bringt, sollte ihn zunächst einmal gut kennen. Viele Israelis – alt und jung - würden, wenn ihnen ein Gesamtbild von Wagner vorläge, umdenken und Wagners Musik aufführen. Oft wird der Eindruck erweckt, als seien die Überlebenden für dieses Thema empfindlicher. Allerdings sehe ich keinen solchen Unterschied. Beide, junge wie ältere Menschen, sind falsch informiert. Wenn ich von meinen Forschungsergebnissen spreche und meine Interpretation von Wagner präsentiere, stoße ich bei Menschen ganz unterschiedlichen Alters auf Erstaunen. Plötzlich liegen ihnen neue Informationen vor. Meine Recherchen zeichnen ein völlig anderes Wagnerbild. Deshalb ist es mir so wichtig, meine Erkenntnisse an die israelische Öffentlichkeit zu tragen.
Die Musik, die den Visionär des Judenstaates inspiriert hat, ist in Israel verbannt, während die Werke eingefleischter Judenhasser ungestört weiter gespielt werden?
Es gibt andere große Künstler, die die Ideologie der Nazis unterstützt haben, aber in Israel nicht boykottiert, sondern unterrichtet werden. In einem Atemzug mit dem Philosophen Karl Jung könnte ich noch viele andere nennen. Aus dem Bereich der Musik kann ich auf zwei verweisen, auf den Komponisten Carl Orff, der ein begeistertes Parteimitglied gewesen ist und dessen Werke wie Carmina burana in Israel seit eh und je gespielt werden oder Franz Lehar, der ebenfalls Parteimitglied und Anhänger der Nazis gewesen ist und dessen Operette Die lustige Witwe auch in Israel aufgeführt wird. Hitler hat dieses Stück bewundert. Richard Strauss war Opfer eines ähnlichen Boykotts. Bis 1990 ist er in Israel ebenfalls boykottiert worden, weil er ein Jahr lang den Komponisten im Dritten Reich vorstand. Tatsächlich hat Strauss die Nazis nicht unterstützt, sondern sich sogar öffentlich gegen den Nazismus ausgesprochen. Als der Violinist Jascha Heifetz eines von Wagners Werken in Israel vorgetragen hat – das muss in den ersten Jahren nach der Shoah gewesen sein – hat ihn offenbar ein Überlebender, dessen Identität bis heute unbekannt ist, mit einer Eisenstange auf den Arm geschlagen, wonach er erst in den 70er Jahren wieder nach Israel zurückgekehrt ist. Ignoranz und Fanatismus hat es schon immer gegenüber Menschen gegeben, die ungerechtfertigter Weise als Nazis bezeichnet werden.
Das Gespräch führte Dor Glick, Journalist und Webredakteur des Goethe-Instituts Israel.

Geschrieben von Redaktion
in Dialogue
um
10:00
| Kommentare (0)
| Trackbacks (0)
Tags für diesen Artikel: anti-semitism, antisemitismus, aufführungsverbot, boykott, Dialogue, dor glick, israel, tel aviv
Artikel mit ähnlichen Themen:
Trackbacks
Trackback-URL für diesen Eintrag
Keine Trackbacks