Acht. Traum
Elmars Schlaf ist unruhig. Er träumt vom Gehen. Er geht den endlos langen Weg zurück, den er gekommen ist. Helen fährt neben ihm in einer Art Schwebemobil, sie lächelt über seine Mühsal. Die Kinder begleiten ihn; sie werden schnell müde. Er trägt sie, zuerst die zarte Nokia, dann die Zwillinge, die eine Weile brauchen, um sich zu einigen, wer von ihnen auf seinem Rücken und wer auf seinem Arm sitzen darf. Der größere Karhu ist ein Angeber, er trägt den kleineren eine ganze Zeitlang mühelos. Elmars Arme brennen, sein Rücken fühlt sich an wie aus Holz geschnitzt. Die Kugel in der Schulter meldet sich wieder. Die Schritte werden schwer, wie nur Traumschritte es werden können. Gleichzeitig kann er nicht stehen bleiben. Wohin geht es überhaupt? Er schreit Helen eine Frage zu, aber die hat inzwischen die Fenster ihres Fahrzeugs geschlossen. Ins Weihnachtsmanndorf schreien die Kinder, selten einmütig, ins Weihnachtsdorf!
„Was ist das schon wieder?“
Hilfe suchend schaut er zu Wiki und Peedia. Er hat sich längst daran gewöhnt, von Ihnen alles Wissenswerte zu erfahren.
„Der Legende nach wohnt der Weihnachtsmann in dem finnischen Berg Korvatunturi, der wie ein Ohr geformt ist. Dort hört er alle Wünsche der Kinder.“
„Es war ein Rundfunksprecher, der diese Geschichte in den 1920er-Jahren erfand. “
„Als man ihr Vermarktungspotenzial entdeckte, verlegte man den Wohnsitz des Weihnachtsmannes kurzerhand nach Rovaniemi. Direkt auf den Polarkreis.“
„Genau genommen verläuft der Polarkreis 120 Meter nördlich von der eingezeichneten Linie.“
Peedia ist eindeutig die zickigere von den beiden.
„Ist denn schon Weihnachten?“, fragt Elmar.
Die Zwillinge verdrehen die Augen.
„Der Weihnachtsmann wohnt da, Mensch. Das ganze Jahr kann man ihn da besuchen.“
Was für ein Blödsinn, denkt Elmar. Warum soll der Weihnachtsmann ausgerechnet am Polarkreis wohnen, in der nachtlosen Nacht. Genau da, wo Elmar am wenigstens hinfahren will!
In seinem Traum beginnt er zu schreien. Er schreit den Kindern zu, dass er keinesfalls zum Nadir gehen wird, dass es eine Unverschämtheit von ihnen ist, so etwas zu verlangen, dass sie ihn endlich in Ruhe lassen sollen und so weiter. Gleichzeitig fällt ihm auf, dass er offenbar an den Weihnachtsmann glaubt, und wird noch wütender.
Plötzlich spürt er einen starken Sog im Rücken. Als wäre hinter ihm ein gigantischer Staubsauger eingeschaltet worden.

Seine Füße heben vom Boden ab, er fliegt, so wie er da stand, mit all den Kindern im Gepäck, hoch durch die Luft . Es ist ein tolles Gefühl, aber es dauert höchstens zwei Sekunden, dann landen sie schon wieder.
Elmar findet sich in einer Halle unter Hunderten anderer Leute wieder. Eine Mischung aus Schwimmhalle und Kino, denkt er und fragt sich, was das wohl sein soll. Da hört er die Kinder ah und oh rufen. Mehrere Delfine schießen in das Becken am anderen Ende der Halle. Drei Trainer in Tauchanzügen springen aus dem Wasser so hoch, dass sie mit den Füßen am Beckenrand landen. Zusammen mit den Kindern sitzt Elmer auf einmal so nah, dass sie alle von den Wasserspritzern nass werden. Matka taumelt an den Händen der ungeduldigen Karhu-Brüder die Stufen runter bis zum Beckenrand. Elmar schaut den Tieren zu, er hat sich nie für Delfine begeistern können. Es sind dumme Tiere mit niedrig vernetzten Gehirnzellen. Beeindruckend ist an ihnen nur, wie geduldig sie für eine Handvoll Fische völlig artfremde Dinge tun. Sie springen durch Reifen, sie bewegen ihre Flossen, als würden sie klatschen. Sie springen synchron auf ein Brett und liegen da, wie von einem Zuckerbäcker drapiert.
Jetzt wird ein Schild heruntergelassen, auf dem eindeutig Babyschwimmen steht. Bevor Elmar irgendetwas tun kann, haben die Karhus Matka an Händen und Füßen gepackt und mit Schwung über die Glaswand zu den Delfinen ins Wasser geworfen. Vier der glänzenden grauen Tiere tauchen auf Matka zu. Und im Nu ist sie verschwunden. Das Publikum klatscht. Elmar springt auf und schreit die Brüder an: „Was habt ihr getan?!“ Sie zucken nur die Achseln.
Empört dreht Elmar sich um. Das kann Helen doch nicht einfach so hinnehmen. Die Mutter dieser vielen Kinder sitzt in ihrem Schwebemobil, nur dass es jetzt nicht mehr schwebt, sondern Teil eines kleinen Zuges ist, der aus vier solchen Wagen gebildet wird. Das Delfinarium ist verschwunden, der freie Himmel leuchtet über ihnen und eine künstliche Felswand steht vor ihnen. Die Kinder sitzen bis auf Matka ziemlich vollzählig in dem kleinen Zug. Elmar erkennt, wo er gelandet ist: Särkänniemi, der Vergnügungspark, in den die Kinder schon am Anfang gehen wollten.
„Hinter mir ist noch Platz. Steig, ein kostet nichts!“
Quasi willenlos steigt Elmar in den Wagen. Nokia sitzt an seiner Seite.
„Du sollst mir die Hand geben“, sagt sie.
„Hast du denn Angst vor Geistern?“
Mit starrem Blick schüttelt sie den Kopf.
Ruckelnd fährt der Zug in die Dunkelheit, vorbei an eher nett drein blickenden Gespenstern und Skeletten, aufklappenden Särgen. Zu Elmars Erstaunen ist Helen in dem Wagen vor ihm so sehr bei der Sache, als wäre alles echt. Sie fürchtet sich, sie quietscht und schreit. Ein Knochenmann streckt seine Hand nach ihr aus und zieht sie aus der Bahn, als wäre sie gewichtslos. Satanisches Lachen ertönt. Gleich darauf wird es vollkommen dunkel. Elmar spürt eine unangenehme trockene Hitze im Gesicht, den Hauch des Teufels. Sie ist weg, kein Zweifel. Auch wenn er gerade nichts sehen kann, weiß er, dass der Platz vor seinem leer ist.
„Iih, Spinnweben“, ruft Nokia neben ihm. Der Zug hält. Dunkelheit und Stille. Nach einer Weile ist klar, dass er nicht wieder anfahren wird. Die Insassen der Wagen werden unruhig, ja panisch. Elmar springt aus seinem Wagen. Er weiß nicht, wo seine Füße landen werden. Es fühlt sich an wie solider Asphalt. Elmar stemmt sich gegen den Stahlrahmen seines Wagens. Mühevoll kann es den Zug schieben. Er schiebt und schiebt ihn weiter in Richtung Ausgang.
Plötzlich hat er keinen Boden mehr unter den Füßen. Er fühlt, dass er fällt, er stürzt durch einen Schacht und landet auf einer hölzernen Plattform. Die Kinder stehen um ihn herum. Zwei junge Leute in blauen Polohemden winken ihn heran. Offenbar muss alles schnell gehen hier. Drei oder vier Kinder an den Händen, Nokia ist nicht dabei, springt er in eine kreisrunde Schüssel, die auf dem Wasser schwimmt. Einige Sitzmulden sind an ihren Rändern ausgebildet, in der Mitte außerdem etwas wie ein Lenkrad, das sich jedoch nicht drehen lässt, wie sich später zeigt. Elmar setzt sich. So weit er sehen kann, sind alle Kinder da. Die Schüssel beginnt sich zu drehen, sie fahren durch bewegtes Wasser. Die Kinder quietschen. Elmar schaut in die unruhigen Baumspitzen. Auf der Suche nach einem Halt für seine Augen schaut er ins Weite. Da liegt der Näsijärvi. Gleich darauf verbirgt ihn ein Sprühnebel. Sie durchfahren den Nebel und werden nass. Sie kommen hart an einem Wasserfall vorüber und werden noch nässer. Es macht nichts, alles fühlt sich nun leicht an. Die Kinder quietschen vor Vergnügen. Auf Elmars Gesicht macht sich ein sonniges Grinsen breit. Er kann gar nichts anders, er muss sich entspannen. Das Boot treibt gegen den Rand der Wasserbahn, es schwimmt einfach darüber hinaus, Kreiselnd gelangen sie auf den See. Elmar lässt den Kopf in den Nacken sinken, er möchte nur noch in seiner gelben Lotosblüte sitzen und in den blauen Himmel schauen. Er fühlt sich vergnügt, alles wird leicht und leichter und immer noch leichter. Auch die Kinder werden leichter. Als die Fliehkraft des wie rasend um sich selbst kreiselnden Bootes die Kleinen eines nach dem anderen aus ihren Lotosblütensitzen schleudert, macht es Elmar gar nicht aus. Er ist mit allem einverstanden.

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