
Jörg Juretzka | Foto (Ausschnitt): © Harald Hoffmann
Mülheim an der Ruhr ist – was das kulturelle Angebot angeht – nicht unbedingt eine Perle unter den Großstädten im Ruhrgebiet. Der Krimi-Autor Jörg Juretzka lebt trotzdem hier. Er teilt im Gespräch seinen unsentimentalen Blick auf seine Heimatstadt.
Herr Juretzka, Sie sind in Mülheim an der Ruhr geboren, leben und arbeiten hier. Was macht diese Stadt lebens- und liebenswert?
Wir haben hier die bezauberndsten Supermarkt-Kassiererinnen der Republik.
Ach, was? Und was darf man als Tourist der „Stadt am Fluss“ neben Besuchen im Supermarkt auf keinen Fall verpassen?
Fast hätte ich gesagt: Die Verkehrsführung, die selbst den Dalai Lama in sein Lenkrad beißen lassen würde. Aber das wäre gemein. Dann: die Fußgängerzone, bevorzugt an einem verregneten Tag im Dezember. Aber das wäre auch gemein.
Und was wäre Ihre Empfehlung – ganz ohne jede Gemeinheit?
Dann plädiere ich für eine Radtour durchs Ruhrtal, hoch nach Werden auf ein Eis bei Kika’s, von dort zum Baldeneysee und dann auf der anderen Ruhrseite wieder zurück. Mache ich oft.
Das heißt: Die Stadt ist für Sie außerhalb der Stadt am angenehmsten?
Nicht unbedingt, aber schöner ist es da auf alle Fälle.
Wo ist Mülheim für Sie besonders authentisch?
Auf der Eppinghofer Straße. An einem sonnigen Nachmittag sieht man dort sehr gut, was für ein buntes Völkchen wir Mülheimer inzwischen sind.
Verraten Sie uns einen Ihrer Lieblingsorte in der Stadt?
Das Schloss Broich und die Atmosphäre im Innenhof. Jedes Jahr findet dort das Art-Obscura-Festival statt, das ist für mich ein Muss.
Mülheim wurde mit der Schließung der Zeche Rosenblumendelle schon 1966 zur ersten bergbaufreien Großstadt des Ruhrgebiets. Wie hat die Stadt den Wandel verkraftet?
Tja. Irgendwie. Alles ist im Wandel und war es vermutlich immer schon, auch wenn unsere Wahrnehmung dem widersprechen möchte.
Was hat sich denn in den vergangenen Jahrzehnten wahrnehmbar verändert?
Produktionsstätten sind Verwaltungsstandorten gewichen. Alles ist sauberer, aber auch ein bisschen steifer geworden.
Die Hauptfigur einiger Ihrer Krimis ist der eigenwillige Mülheimer Privatdetektiv Kristof Kryszinski. Sie haben ihn mal als „Ruhrgebiets-Archetypen“ bezeichnet. Warum kann Kryszinski nur hier geboren sein?
Er besitzt diesen fatalistisch geprägten Humor und eine ebenfalls ruhrgebietstypische, gesunde Abneigung gegen jede Form des Lamentierens. Der Berliner – zum Beispiel – beschwert sich ja von morgens bis abends. Das hätten unsere Vorväter, die zum großen Teil in ausgesprochen harten, dreckigen und gefährlichen Berufen gearbeitet haben, nie geduldet. Wenn die irgendwas nicht brauchen konnten, dann war das einer, der ihnen in ihrer Freizeit vorjammerte. Da hieß es dann gleich: „Hömma, hasse eigentlich kein’ Friseur, demde datt erzählen kannz?“ Diese Haltung prägt uns bis heute.
Sie haben gleich zwei Berufe: Tischler beziehungsweise Zimmermann und Schriftsteller. Ist Mülheim ein guter Ort für Kompromisse?
Einen Zweitberuf weit weg vom Schreibtisch zu haben, ist weniger Kompromiss als Ausgleich und, ja, auch Notwendigkeit. Es ist schön, dass in dieser Hinsicht hier in Mülheim alles für mich zusammenläuft.
Wie überall im Ruhrgebiet sind die Nachbarstädte nicht fern. Mülheim liegt neben Oberhausen, Essen, dem Ballungsraum Düsseldorf und Duisburg. Ist das für Sie tröstlich?
Nein, kein bisschen. Mir wäre es lieber, wenn wir von Meer, Bergen, Dschungel und Wüste umgeben wären. Aber was will man machen.
Mit der 1.830 Meter langen Ruhrtalbrücke hat Mülheim die längste Stahlbrücke Deutschlands. Welche Bauwerke in der Stadt beeindrucken sie am meisten?
Da gibt es für mich nur eines: den Straßenbahntunnel unter der Ruhr hindurch, der Unsummen gekostet hat und den der Großteil der Mülheimer nur vom Hörensagen kennt.
In Mülheim steht die weltgrößte begehbare Camera Obscura. Dort sieht man die Dinge bekanntlich auf dem Kopf. Was würden Sie in Mülheim gern mal auf den Kopf stellen?
Die oberen Ebenen unserer Stadtverwaltung. Ja, wir haben mehrere davon mit einer staunenswerten Zahl an Posten.
Können Sie eine kulinarische Spezialität aus Mülheim empfehlen?
Dazu fällt mir nur „Himmel un Äät“ ein, also Stampfkartoffeln mit sauer angemachtem Endiviensalat verrührt, dazu gebratene Blutwurst. Ob ich das empfehlen kann, steht auf einem anderen Blatt.
Fehlt Ihnen etwas in Mülheim?
Nein, eigentlich nicht. Hier ist nicht viel los, aber ich mag das so.
Autor
Dagmar Giersberg
stellte die Fragen. Sie arbeitet als freie Publizistin in Bonn.
Copyright: Goethe-Institut e. V.,
Internet-Redaktion
Januar 2016