
© Ioana-Cristina Casapu
Meine Mutter war 12 Jahre alt, als sie zum ersten Mal nach Berlin kam. Gemeinsam mit dem Chor der Pioniere aus Rumänien nahm sie an einer Konzertreise durch die damalige DDR teil. Das Sommerlager "Pionierrepublik Wilhelm Pieck“, in dem meine Mutter und ihre Kollegen nach den Konzerten in Dresden und Cottbus einquartiert waren, lag nur eine halbe Autostunde von Berlin entfernt.
"Außer an die Plüschbären, die ich meinen Freunden als Souvenir mitgebracht habe, und an den Besuch im Zoo, kann ich mich leider nicht wirklich an das Berlin von damals erinnern. Bis auf die dominanten Grautöne der Gebäude und die Breite der Boulevards, die mir damals unvergleichlich größer vorkamen als die Bukarester Boulevards ", schreibt meine Mutter.
Ich habe meine Mutter seit ihrem Besuch in diesem Sommer, also seit genau sechs Monaten, nicht mehr gesehen. Davor hatte ich sie auch sechs Monate lang nicht gesehen. Genau vor einem Jahr, im Dezember 2019, nahm ich den letzten Flug von Bukarest zurück in meine Adoptivstadt. Die Geschichte der Teddybären, die meine Mutter vor 50 Jahren aus Berlin mitgebracht hatte, kenne ich seit meiner Kindheit. Die Teddybären gibt es mittlerweile nicht mehr, dafür haben wir uns 2020 neben lebensgroßen Bären fotografieren lassen, die jetzt in allen Touristenecken Berlins zu finden sind.
An die “Republik der Pioniere” kann sich meine Mutter unterdessen noch ganz präzise erinnern. Es war in diesem Ferienlager, erzählt sie, dass sie Brieffreundschaften geknüpft hat, die über Jahre hinweg gehalten haben. Dort hatte sie auch deutsche Redewendungen, die sie zuvor gelernt hatte, zum ersten Mal erfolgreich verwendet. „Bitte, ein Glas Wasser“ hatte damals bewirkt, dass ihr das Glas Wasser direkt aus dem Küchenfenster in den Garten gereicht wurde. .
Nach knapp einem Jahr begab sich meine Mutter erneut auf eine Rundreise durch die DDR, wieder gemeinsam mit dem Chor der Pioniere. Diesmal standen Auftritte in Potsdam, Weimar, Sonneberg, Gera, Leipzig und Frankfurt an der Oder im Programm und es wurde auch mehr Zeit für die Besichtigung Berlins und seiner Umgebung eingeplant. Zu den Sehenswürdigkeiten gehörten das Pergamonmuseum, der Fernsehturm, mehrere Denkmäler für die Opfer des Krieges, die Neue Wache, die Grenze zwischen DDR und BRD, das Schloss Cecilienhof und das Neue Palais in Potsdam.
Sie besichtigte all diese Sehenswürdigkeiten noch einmal nach der Wiedervereinigung. Das erste Mal vor 5 Jahren und das letzte Mal in diesem Sommer während der Pandemie, das auch mit dem 50-Jahre Jubiläum ihrer Berlin-Besuche zusammenfiel.
"Die Grautöne halten auch heute noch an, vor allem im östlichen Teil der Stadt. Trotzdem kann man den Wandel von einem Jahr zum anderen mit bloßem Auge bemerken. Das vereinigte Berlin ist eine riesige, immer größer werdende Baustelle. Und das ist eine gute Sache", schrieb sie, als ich sie fragte, was die erwachsene Frau anders empfand, verglichen mit dem kleinen Mädchen, das die Stadt schon lange vor meiner Geburt und meinem Umzug hierher gekannt hatte.
Die Liste der Sehenswürdigkeiten, die sie vor fünf Jahrzehnten aufstellte, haben wir gemeinsam ergänzt: Neues Museum, Altes Museum, Alte Nationalgalerie, Gemäldegalerie, Brandenburger Tor, Deutsches Parlamentsgebäude, Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße, Holocaust-Gedenkstätte, Berliner Dom, Gendarmenmarkt, Checkpoint Charlie, Schloss und Park Charlottenburg, Schloss und Park Sanssouci.
"Die stärkste Emotion empfand ich bei meiner Rückkehr nach Potsdam, wo ich zum ersten Mal als Teenagerin Anfang der 70er Jahre, in einem bunten Trachtenkleid, gemeinsam mit den Kollegen aus dem Chor unter dem Beifall der deutschen Zuschauer auf den Stufen des Neuen Palais auftrat."
"Die Pandemie und die damit eingehenden Einschränkungen ließen mich leider nicht den Rest der damaligen Reise durch die DDR nachstellen, um das Goethehaus und das Gasthaus „Zum Schwarzen Bären“ in Weimar wiederzusehen, so wie die Grotte "Das Loch" in Zaal, das alte Spielzeugmuseum in Schöneberg und die Thomaskirche in Leipzig, wo Bach getauft und begraben wurde."
In dieser langen Zeit des Nicht-Sehens bin ich auf den Spuren meiner Mutter gegangen, in Museen, die sie vor so langer Zeit betreten hatte und die ich nun erneut oder das erste Mal besichtigte. In den außergewöhnlich ruhigen und monumentalen Räumen der Kunstpaläste stellte ich mir oft die Frage, mit dem Blick an dem einen oder anderen Bild haftend, warum ich hier bin und ob es eine geheime Verbindung gibt zwischen dem damaligen Weg meiner Mutter durch Berlin und dem Leben, das ich hier aufzubauen versuche.
Bei ihren letzten Besuchen führte ich meine Mutter in das Ökosystem der unterschiedlichen Existenzen ein, die ich seit 2015 in den verschiedensten Stadtteilen von Berlin aufgebaut habe: Prenzlauer Berg, Charlottenburg, Schöneberg, Mitte und Kreuzberg. Ich zeigte ihr die Orte, an denen ich lebte, aß, lachte, schrieb, träumte, manchmal im Gras liegend und mit dem Blick auf den klaren Himmel gerichtet weinte, durchdrungen von verschiedenen Sehnsüchten im Herzen.
In letzter Zeit führe ich meine Mutter in Briefen oder beim Wiedersehen im virtuellen Raum durch meine einsamen Spaziergänge entlang der Kanäle. Ich lasse sie mich in Gedanken begleiten, die oft nur Vermutungen von heute oder morgen sind. Ich möchte sie auch durch alle Ecken des alten und neuen Gedächtnisses dieser Stadt führen, die unsere Schicksale auf eine noch so unverständliche Weise miteinander verbindet.
Bis zum nächsten Mal, Mama.