
© Hermance Triay
Was ist der Übersetzer bloß für ein seltsamer Wanderer? Gibt es ihn überhaupt, oder ist er selbst nur eine Metapher?
Anne Weber, geboren 1964 in Offenbach, ging 1983 nach Paris und studierte französische Literatur sowie vergleichende Literaturwissenschaften an der Sorbonne. Von 1989 - 96 arbeitete sie in Lektoraten verschiedener französischer Verlage. Sie übersetzt sowohl aus dem Deutschen ins Französische (u. a. Wilhelm Genazino und Sibylle Lewitscharoff), als auch aus dem Französischen ins Deutsche (u. a. Pierre Michon und Marguerite Duras). Zuletzt erschienen bei S. Fischer ›Kirio‹, ›Ahnen‹, ›Tal der Herrlichkeiten‹, ›August‹ und ›Luft und Liebe‹. Ihr Werk wurde unter anderem mit dem Heimito-von-Doderer-Preis, dem 3sat-Preis, dem Kranichsteiner Literturpreis und dem Johann-Heinrich-Voß-Preis ausgezeichnet. Ihre Bücher schreibt Anne Weber auf Deutsch und Französisch.
Autoren sind Kannibalen
Was ist der Übersetzer bloß für ein seltsamer Wanderer? Gibt es ihn überhaupt, oder ist er selbst nur eine Metapher? Der Übersetzer ist einer, der in monate- und jahrelanger Kleinarbeit aus einer Metapher Wirklichkeit macht. Und nichts ist seltsamer als der Kontrast zwischen der Erhabenheit des einsam schweifenden Bergwanderers oder Fährmanns und der Akribie, dem zermürbenden Kopfzerbrechen, die diese Schreibtisch- und Gehäuse-Arbeit verlangt. Was reizt einen Menschen eigentlich an dieser mühsamen, undankbaren, immerfort die eigene Unzulänglichkeit zu Tage bringenden Tätigkeit?
Was mich am Übersetzen lockt und aus mir mitunter eine leidenschaftliche Übersetzerin macht, ist weder das Erahnen der vollkommenen Sprache, die Mallarmé zufolge hinter der Vielzahl der Sprachen aufscheint, noch der Wunsch, „den Samen reiner Sprache zur Reife zu bringen“, wie Benjamin es sich vorstellt, wie es aber die Entwicklung der Literatur in den letzten Jahrzehnten mit Werken, die etwa, wie bei Beckett, Bing oder Schluss jetzt, oder, wie bei George Perros, Luftschnappen war sein Beruf heißen, nicht gerade begünstigt hat. Was mich reizt, ist etwas anderes. Es ist die Vertiefung in die Rätsel eines Wortes, eines Syntagmas, eines Satzes, seiner Verknüpfung mit den ihn umgebenden Sätzen und seines Eingebettetseins in die sinnhafte Musik eines Buches. Statt mit einem großen Rätsel habe ich es mit sehr vielen kleinen zu tun, für die es aber eine Lösung gibt. Ich muss sie nur finden.
Übersetzen ist erholsam (für diesen Satz werden mich die Übersetzer lynchen; mit ein bisschen Glück habe ich gerade noch Zeit, diese Rede zu Ende zu bringen). Das Übersetzen ist ein Schreiben, bei dem keine weiße, sondern eine geschwärzte Seite vor mir liegt, anders gesagt: Das Übersetzen ist kein Schreiben. Ein freundlicher oder, je nachdem, auch ein gehässiger Mensch ist schon vor mir dagewesen und hat die Seite für mich beschrieben. Jetzt gilt es, in den Wirrwarr dieser Schrift und des Verfasserkopfes einzudringen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass ich für meine Arbeit länger brauche als mein Vorgänger auf dieser Seite. Trotzdem habe ich es leichter. Ich sitze nicht vor dem Nichts.
Stattdessen sitze ich z.B. vor einem Buch von Pierre Michon oder von Georges Perros und verstehe, was da geschrieben steht. Glaube es zumindest zu verstehen. Bis ich mit dem Übersetzen beginne. Dann erst merke ich, wie wenig ich begriffen hatte. Der Leser, auch der aufmerksame, fliegt über das Geschriebene hinweg und begnügt sich mit ein paar Anhaltspunkten, mit deren Hilfe er sich ein Ganzes zusammensetzt. Der Übersetzer wird von jeder Unschärfe und jeder offenen Frage wie am Hosenbein festgehalten. Indem er die Mehrdeutig- und Eigenwilligkeiten, die Rhythmen, Klangvorlieben und Obsessionen des Autors auslotet, lernt er ihn langsam kennen; am Ende weiß er mehr von ihm oder ihr als dessen Ehefrau oder Ehemann. Wenn er nicht aufpasst, geht er langsam in ihn über: Die Autoren sind Kannibalen und fressen gerne ihre Übersetzer. Wie soll auch das Übersetzen gelingen, so lange man stur auf seiner Persönlichkeit beharrt? Der Übersetzer ist in mancher Hinsicht vergleichbar mit einem Schauspieler, insofern er ein fremdes Werk verkörpert, ihm einen neuen Sprachkörper verleiht. Er muss dazu etwas von sich, wenn nicht aufgeben, so doch über befristete Zeit vernachlässigen. Ein dichterisches Werk ist seinem Verfasser nicht äußerlich; ohne seine besondere, unverwechselbare Art zu denken, zu fühlen, die Welt in sich aufzunehmen, wäre es nicht zustande gekommen. Und so kann der Übersetzer nicht anders, wenn seine Arbeit gelingen soll, als sich so weit wie möglich mit dem Autor vertraut zu machen, sich in ihn hineinzudenken und -zufühlen. Je nachdem, wie stark sein eigener Charakter ist, wird sich früher oder später etwas in ihm gegen diesen Fremden wehren, der ihm da sein Wesen aufzwingen will.
Es gab Momente, gar nicht so seltene, in denen ich Pierre Michon den Hals hätte umdrehen können. Nicht, dass ich ernsthaft an seiner dichterischen Bedeutung, an der Schönheit seiner Prosa gezweifelt hätte. Aber ich lag im täglichen Widerstreit mit seiner Theatralik, seinem nahezu ungebremsten Pathos, seinen mir fremden und, ja, leidigen Obsessionen, seinen sprachlichen Manien, die mir beim bloßen Lesen nicht weiter aufgefallen waren. Ich hätte eine kleine Liste von Wörtern anlegen können, die ich ihm hätte verbieten wollen, den Michon’schen Kernwortschatz umfassend. Was treiben eigentlich die Lektoren? Am Ende habe ich ihm nur einen Halbsatz ausreden können, der mir allzu sehr gegen den Strich ging. Hat er verstanden.
Nichts von all dem ist übertrieben; diesen Widerwillen habe ich verspürt. Vor allem aber war ich beim Übersetzen von Michons Hauptwerk „Vies minuscules“, das den deutschen Titel „Leben der kleinen Toten“ trägt, jeden Tag und auf jeder Seite in Versuchung, den Verlag anzurufen und zu sagen: „Ihr müsst einen anderen Übersetzer finden, dieses Buch überfordert mich, nehmt es zurück, tut mir leid.“ Warum ich trotz dieses ständigen Gefühls des Scheiterns immer weitergemacht habe, ist mir immer noch ein Rätsel. Irgendwann hatte ich mich jedenfalls durch dieses Wortdickicht gekämpft und sah wieder Licht. Ich war wie ein Boxer, der einen langen Kampf mit einem übermächtigen Gegner durchgehalten hat und am Ende ehrenhaft unterlegen ist. Ich ging an die Überarbeitung dieses Gemurkses.
Aus
Anne Webers Preisrede zu dem Johann-Heinrich-Voß-Preis