
© Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag
Lesen Sie einen Auszug aus dem mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2020 auzgezeichneten Roman
Stern111 von Lutz Seiler. Rumänische Übersetzung von Manuela Klenke,
Lutz Seiler wurde 1963 in Gera/Thüringen geboren, heute lebt er in Wilhelmshorst bei Berlin und in Stockholm. Nach einer Lehre als Baufacharbeiter arbeitete er als Zimmermann und Maurer. 1990 schloss er ein Studium der Germanistik ab, seit 1997 leitet er das Literaturprogramm im Peter-Huchel-Haus. Für sein Werk erhielt er mehrere Preise, darunter den Ingeborg-Bachmann-Preis, den Bremer Literaturpreis, den Uwe-Johnson-Preis, 2014 den Deutschen Buchpreis und den Preis der Leipziger Buchmesse 2020.
Auszug aus dem Roman Stern111 von Lutz Seiler
Kein Brief, keine Nachricht, so verstrichen die Tage. Wenn Carl müde war und zerstreut, kam es vor, dass er dachte: Sie werden nie fortgehen. Aber sie waren gegangen. Eltern, denen nichts wirklich Ernsthaftes zustoßen konnte. Ab Gießen getrennt.
Kühlschrank und Gefrierfach waren gut gefüllt, die Vorräte des alten Lebens, genug für Wochen, Monate vielleicht. Seine Mutter hatte alles in Portionen aufgeteilt, in sauber aufgeschnittenen, gründlich ausgewaschenen Milchtüten. Am verblichenen Blau der Schrift erkannte Carl, dass die Tüten schon mehrfach benutzt worden waren. Er entzifferte das Wort Milchhof, das ihm gefiel, nur das Wort. Die Verbindung von Milch und Hof, das war klare, starke Poesie. Jede Tüte war mit einem kleinen Gummi verschlossen. In den Wicklungen des Gummis steckte ein Streifen Pappe, mit Datum und Inhaltsverzeichnis. Er betrachtete die stürmische, in den Fortgang des Wortes gelehnte Schrift. Flüchtlingsschrift flüsterte Carl ins Gefrierfach, und mit einem Ruck sprang der Kühlschrank an. Aus dem Gedröhn des Aggregats tönte die Ermahnung seines Vaters, die Tür nur kurz, möglichst nicht länger als zwei bis drei Sekunden geöffnet zu halten: »Man sollte vorher wissen, was man will. Man muss sich konzentrieren.«
Nach drei Wochen in Gera musste Carl feststellen, dass er genau dazu nicht mehr in der Lage war. Lesen konnte er nur noch für Minuten, dann musste er aufstehen, sich bewegen. Da er niemandem begegnen und mit niemandem sprechen wollte (erst recht nicht über das spurlose Verschwinden seiner Eltern), verließ er die Wohnung nur nachts, wie ein Tier seine Höhle, im Schutz der Dunkelheit. Manchmal streunte er dann durch die Gebind, das war der Name ihres Viertels, sieben parallel angeordnete Altneubauten und einige andere, die sich bergauf zum Wald hin stuften. Manchmal ging er auch an den Fluss, den alten Spazierweg bis zur Franzosenbrücke. Er sah das schwarz schimmernde Wasser der Elster und vor ihm die Gestalten seiner Eltern, Hauptdarsteller der Gewohnheit. Er sah, wie seine Mutter ihren Arm um die Hüfte seines Vaters legte, lachte und ihn zu sich heranzog. Schon als Kind hatte er während ihrer Sonntagsspaziergänge am Fluss nicht nur Langeweile, sondern auch eine gewisse Traurigkeit empfunden, von der er nichts Genaueres wusste. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass er der Einheit, die seine Eltern bildeten, immer nur mit einigem Abstand gefolgt, ihnen (gewissermaßen) nachgeschlichen und dabei allein geblieben war mit dem Fluss, wo seine Phantasien trieben, in Strudel gerieten und an den Stromschnellen abtauchten wie ein Floß, das überladen ... Wenn die Fahrt zu stürmisch wurde, stand er dort, wie angewurzelt, und musste atmen, atmen, bis sich alles wieder beruhigt hatte. Während seine Eltern sich langsam immer weiter entfernten mit ihren selbstgewissen, in tausend Spaziergängen aneinander abgemessenen Schritten.
Er trank zu viel und führte Selbstgespräche. Er verlotterte und schrieb keine einzige brauchbare Zeile. Stattdessen sah er fern, tage- und nächtelang. Immer neue, immer unglaublichere Nachrichten: Aufruf zum Generalstreik und die alte Regierung unter Hausarrest, teilweise schon in Haft. Die alte Ordnung löste sich auf, in rasender Geschwindigkeit. Dazu Apfelwein und eingeweckte Pflaumen. Die Grenzhundekaserne mit den goldenen Kiefern war noch immer eine Meldung wert. In der Küche stapelte sich das verdreckte Geschirr, Müll auf dem Boden, Fäulnisgeruch. Nachts tänzelte Carl auf Strümpfen in den Keller und kehrte mit frischer Beute nach oben zurück, lautlos. Der Wein war ausgesprochen süß und verursachte einen dumpfen, stechenden Kopfschmerz; vielleicht trank er zu schnell.
Ab und zu blieb Carl etwas länger dort unten. Er fühlte sich matt und brauchte eine Pause vor dem Wiederaufstieg. Als hätte der plötzliche Aufbruch seiner Eltern ihm alle noch vorhandenen Kräfte ausgesaugt. Ab Gießen getrennt. Die Vermisstenmeldungen häuften sich: Menschen aus dem Osten, die im Westen spurlos verschwunden waren, abgetaucht. Menschen aus dem Osten, die ihre Mütter, Väter, Ehefrauen und -männer (und ja, auch ihre Kinder) verließen und über die Grenze Richtung Westen zogen und unsichtbar wurden. Es war die Gelegenheit, man wechselte das Leben. Erst eiserner Vorhang, jetzt goldene Brücke. Und wie leicht musste es sein, ein paar dieser Glücksritter und Freiheitssucher beiseitezuschaffen, irgendwo zu verscharren, falls sich daraus ein Vorteil ergab ...
Sollte er nach Gießen fahren? Eine Nachforschung beantragen im Flüchtlingsregister? Oder gleich eine Vermisstenanzeige? Hunderttausend, hieß es, seien unterwegs. Hunderttausend seit Öffnung der Grenze.
›Man fährt nicht mit dem eigenen Wagen vor das Tor eines Flüchtlingslagers‹ – es ziemt sich nicht, so hatte Carl seinen Vater verstanden. Das war sein Respekt vor dem Vorgang der Flucht, deren Umstände im Ungewissen lagen. Vor allem aber, so sah es Carl, entsprach es seiner Gutgläubigkeit – einem Vertrauen darauf, dass ein bestimmtes (gutes, richtiges) Verhalten eine bestimmte (gute, richtige) Reaktion hervorrufen würde. Und vielleicht hatte er recht damit. Vielleicht brauchte es diese Formen von Demut und Buße, wenn man ein Flüchtling aus dem Osten war. So ungewöhnlich ihr Schritt, so chaotisch und gewagt das Ganze auch aussah, sie wollten es anständig machen. Sie wollten gute Flüchtlinge sein, was Carl das Herz abschnürte. Arme Eltern. Sie würden es niemals schaffen. Sie waren nicht kaltschnäuzig genug, hatten nicht die Ellbogen dafür. Sie waren mit schlimmeren Dingen nicht vertraut, waren zu alt, zerbrechlich, verletzlich und schleppten einen großen schwarzen Kasten durch die Gegend.
Erst jetzt, hier unten im Keller, vor dem Apfelweinregal, erreichte Carl die Angst. Das heißt, sie war längst da gewesen, eigentlich die ganze Zeit. Sie steckte in den Ankergläsern, in der eingeweckten Blutwurst, den Birnen und den Pflaumen, sie hockte in den dunklen Ecken und hatte den Rattengeruch. Sie nagte an den Zeitungsstapeln, sie zermalmte das Papier zu winzigen Fetzchen und spuckte es aus. Sie fraß den Zyankaliköder und ging nicht zugrunde daran, im Gegenteil, sie wuchs. Er hatte eine Kerze angezündet (das Licht funktionierte schon seit Jahren nicht mehr) und lehnte mit dem Rücken am Kohlebunker. Sein Blick fiel auf das Vertiko seiner Urgroßmutter, das irgendwann hier unten seinen Platz gefunden hatte, zwischen Kartoffelmiete und Vorratsregal. Eine Ecke des Schranks war verkohlt, als Kind hatte er versucht, ihn anzuzünden, verträumt und mit viel Geduld: Carl-das-dumme-Kind, starrt gern in kleine Feuer, nur so, gedankenlos. An der Wand gegenüber hing die große Platte seiner Modelleisenbahn, in uralte Laken gehüllt. Durch einen Spalt sah man die Landschaft, einen Bahnhof, kleine Menschen aus Plastik, mit den Füßen festgeklebt. All diese Dinge bestanden aus Angst. Irgendwo da draußen tobte die Geschichte, und mitten in diesem Treiben irrten seine Eltern umher.
Textauszug aus: Lutz Seiler, Stern 111. Roman. S. 31-36. © Suhrkamp Verlag Berlin 2020