Roman-Präsentation
Fast der siebte Teil der Welt
Cătălin Pavel
Wenn ein Mann alles verkauft und fünf Jahre seines Lebens – Tag und Nacht – damit verbringt, in Zügen von einem Ende Europas ans andere zu fahren, nur im Schlafwagen schlafend, nur im Speisewagen essend, ohne Musik und ohne Freunde, würde man erwarten, dass dessen Welt sehr monoton wird. Bloß dass Zoran, der Reisende, schließlich befreit vom Reichtum der realen Welt, sich zum ersten Mal seiner Vergangenheit widmen kann um sie zu verstehen und zu ordnen. Sein einziger Kontakt zur Außenwelt ist ein Junge, der in einer englischen archäologischen Mission in Mali arbeitet und mit dem ihn über dessen Mutter, Zuleika, eine alte Liebesgeschichte verbindet, die sich im Verlaufe des Buches, in der Faszination des Dekors des Sahel, der Muslime und der Tuareg schrittweise offenbart. Die Emails, die der Knabe ihm schreibt, aus einer Welt, die von seiner so verschieden ist, wie sie nur sein kann, stellen den Konterpart dar zu den Exzentrizitäten der Reise des Zoran, des Weltbürgers, der zum Experten der Kontemplation geworden ist. Was die innere Welt, die des Zuges angeht, so ist diese eine Welt, in der Zoran mehr auf die Menschen achtet als je zuvor, auf jene lachhaften
tranches de vie aus den kurzen, aber intensiven Bekenntnissen der Fahrgäste, welche die Marotten der europäischen Staaten – und ihrer Immigranten – und das Echo des Ostkommunismus widerspiegeln. Weil Zoran nie wieder einen Fuß auf die Erde setzen will, verbringt er in fünf Jahren lediglich zwei Nächte außerhalb des Zuges – unweit Genuas, wo ihm eine Unbekannte ihr Haus öffnet, und an der walisischen Grenze, wo er aus dem Zug steigt, um einen sterbenden Alten ins Krankenhaus zu bringen. Die fragmentarischen Erzählungen aus dieser Stadt auf Rädern, in welcher der rumänisch-serbische Chirurg auf Dauer lebt, scheinen ein lebendiges Mosaik der globalisierten Welt zu gestalten, mit den Exzessen ihrer Peripherie und den Ängsten ihres Zentrums. Die Relevanz des Buches entspringt dem Kontrast zwischen den vielfältigen existenziellen Visionen um das Jahr 2000 – von dem essenzialisierten Leben der malischen Siedlungen wie Essouk, Gao und Kidal, aufgewühlt vom Bürgerkrieg, bis zu den Raffinessen der Europäischen Union, die die balkanische Welt im Handumdrehen verschlingt. Schnell wie ein TGV, lädt das Buch zu einer wohltemperierten Reise ein, vollendet von einem Herzen, dem Grenzen fremd sind.
Fast der siebte Teil der Welt (Humanitas, 2010, S. 7-14)
Es ist gar schwerer Dir von meiner Mutter zu erzählen, als von Deiner. Du bist nun fast ein gestandener Mann. Der Umstand, dass ich mit Letzterer eine Weile zusammen war (und ich glaube, wir sind noch immer zusammen, selbst wenn wir beide verschwunden sind oder als verschwunden gelten) ist viel einfacher zu erklären als beispielsweise der Weg, den ich mit Ersterer jeden Donnerstag im Alpinet-Park zurückgelegt habe. Du liefst und hattest fortwährend den Eindruck, Du müsstest den linken oder rechten Arm heben, um einen Schleier, eine Zirkusleinwand auf Deinem Weg beiseite zu rücken, Du hattest den Eindruck, das Dekor würde Dir auf den Kopf fallen, man hörte überall Rascheln, die Welt bewegte sich. Du warst niemals im Wanderzirkus in Temeschwar im Winter 1965, mir scheint, er war nur im Winter geöffnet, Du bist 1996 geboren, in der Sahara, und trotzdem schreibe ich Dir nun, stell Dir vor. Ja, so ereignen sich die Dinge. Sie erscheinen weniger merkwürdig in dem Moment, da sie sich begeben, man sieht durch sie hindurch, sie sind transparent, das Wasser ist klar, die Welt ist unverändert, doch dann, wenn Du innehältst um nachzudenken, wenn Du aufhörst von oben nach unten zu schauen, ist das Wasser plötzlich schmutzig, dunkel, Du siehst nichts mehr. Mutter ging hinter mir, ich voran, und dann hielt ich an, weil ich so viele Dinge nicht mehr durchdringen konnte, die Welt widersetzte sich, mein Geist war nicht vorbereitet aufs Gehen. Wenn ich an sie denke, nenne ich sie eher Milena als Mutter, aus dem Grunde, dass ich mit Vater unvergleichlich mehr über sie gesprochen habe als mit ihr, und Vater nannte sie nur Milena, niemals ‘deine Mutter‘. Für mich war klar, dass sie für keinen von uns mehr war, seitdem sie nicht mehr war. Im Alpinet gab es einige Tannen- und Pinienhaine bis zum Himmel, hier und da gewaltige Bänke, auf die Milena sich setzte und auf denen sie reglos verharrte, damit ich wusste, dass sie dort war, selbst wenn ich hin- und herlief, dass sie dort andauernd unverändert saß. Sie las ein Buch. Unzufrieden mit der endlosen Welt ging sie woandershin durch den kleinen Trichter des Buches. Alle paar Seiten erhob sie sich von der Bank und kam, mich in den Arm zu nehmen, entweder, weil ihr das Buch zu sehr gefiel, oder weil irgendein Ärger in ihr aufstieg. Es gab dort tausend Tauben, und dennoch, wenn ich alle toten Tauben, die ich in meinem Leben gesehen habe, zusammennehme, sind es nicht mehr als zehn. Und keine einzige in Rumänien. Alle, die geflohen sind, sind gestorben, sie sind gestorben in Venedig und in Algeciras, und die verbliebenen neunhundertneunzig Tauben, die sich meiner erinnern, fliegen noch irgendwo durchs Land, wie Milena, die hinter mir lief, darauf wartend, dass ich anhielt, weil sie nicht mehr weiterlaufen konnte. Ich sitze hier und gedenke mit großer Freude dieser ewigen Dinge. So dass ich beinahe beginne, auf Serbisch zu schreiben. Die Erinnerungen sind alle in anderen Sprachen, in den bestgeeigneten Sprachen. Es gibt auch Sprachen, in denen ich keine Erinnerung habe, in ihnen ist mir nichts passiert oder ich spreche sie zu schlecht... oder vielleicht habe ich noch zu leben, habe ich noch zu reisen. Was ich auch tue. Ich bin innendrin und reise. Ist man außerhalb, dann heißt es Gehen, eine andere Art des Reisens... in der Stadt des Alpinet-Parks gab es auch eine Art wassergefüllten Abgrunds, der den Park vor dem Angriff des Kel Assouf schützte, den Bega-Kanal, in dem ich mich betrachtete in den Armen Milenas, deren Augen, wenn ich mich zu ihr umwandte, so fröhlich waren, als hätten sie wer weiß was geschaut. Ich wusste nicht, was Fröhlichkeit bedeutet, und frage mich, weshalb mir der Eindruck blieb, dass es fröhliche Augen waren. Vielleicht dachte sie an die Wüste, in die ich gelangen würde. Milena hatte keine Ahnung von Adrar des Ifoghas, von der Sahara, von der Sahel-Zone. Ihre Obsession bestand darin, mir in einem vom Kommunismus vollständig zerfickten Land eine normale Kindheit zu bescheren. Ich setzte mich immer auf den Beifahrersitz, wo ich mir aus Gurten eine Art Stühlchen gemacht hatte. Milena war mutig. Liebe ist mutig. Sie fuhr gut und fluchte. Ihre Stimme, wenn sie Rumänisch sprach, um von den anderen Fahrern richtig verstanden zu werden, war von für mich bis heute aufwühlender Süße. Seitdem habe ich nichts gegen Flüche. Das war am Donnerstag, als sie, wie ich viel später von meinem Vater erfuhr - weil mir die Idee donnerstags zu gehen jäh fundamental erschien und ich Vater mit Fragen löcherte - ihren freien Tag am Puppentheater hatte und Vater hingegen Dienst in der Klinik. Verwunderlich, die Sache mit dem Donnerstag hielt jahrelang an. Es hätte etwas dazwischen kommen können, es kam nichts dazwischen. Vater war weiterhin donnerstags im Dienst, Milena, seine Frau, meine Mutter, hatte weiterhin donnerstags frei am Theater. Die Tauben waren weniger geworden, die Bäume klebten am Boden, sie kam nicht mehr alle paar Seiten. Bücher mochte sie nicht mehr und sie hatte aufgehört im Auto zu fluchen. Doch wir waren glücklich, weil wir weiterhin derselbe Teil des Stromes waren. Jetzt ist sie weiß der Himmel wo. Weiß man noch was von den Toten? Was sagt man bei Euch über sie? Hier kann ich mich gut genug konzentrieren, um diese Frage zu stellen. Vielleicht würde es mir gelingen, zugleich etwas von Zuleika zu erfahren. Ich bin überzeugt, dass die Beiden sich gut verstehen würden, besonders, weil sie keiner gemeinsamen Sprache mehr bedürften. Sie würden schlicht durch die Farben sprechen, die aus ihnen sickerten, so wie in Wasser geschüttetes Kaliumpermanganat der Welt eine blutige Nuance verleiht, die ich falsch verstanden habe. Zuleika war Dir umso näher, je mehr Du ins Blaue schwafeltest. Ich wusste nicht, wie ich ihr näher war, indem ich irrte oder indem ich Recht hatte. Ich schreibe Dir von hier und von hier kann ich nicht lügen. Ich bin verborgen im Inneren der Reise selbst. Ich möchte am Bauch des Zuges kleben, mit den auf die Bahnschwellen Funken sprühenden Stoßplatten, doch das geht nicht. Stoßplatten habe ich keine. Ich trag Turnschuhe. Ich bin hier versteckt. Ich verstecke mich vor nichts. Im Gegenteil, ich komme entgegen. Die Welt ist zur Hälfte in unseren Händen, zur Hälfte in unserem Geist. Sie versengt unsere Hände und blendet unseren Geist, doch wir klammern uns an sie. Wir klammern uns an sie, weil es unser größter Wunsch ist sie zu schänden, mittels einer kurzen, eleganten Demonstration in einer für jedermann leicht verständlichen universellen Sprache zu beweisen, dass sie unfunktional ist, dass das Leben gründlich unkorrekt, gründlich unlebbar ist. Die brutalste Wahrheit aber ist, dass unsere grundlegende Ablehnung der Welt ein großer Fehler ist, diese Ablehnung muss nuanciert werden, und dies ist die schwerste Bürde, die einem Menschen auferlegt werden kann. Arbeit für ein ganzes Leben. Wer schert sich um Nuancen? Wenn man zu den Nuancen hinabsteigen muss, dann pfeift man besser auf Alles. Zuleika war schwanger mit Dir. Ihr war kalt auf der Straße und ich hielt sie bei der Hand, um ihr zu helfen. Ich wusste, dass ihr kalt war, aber ich wusste nicht, dass sie schwanger war. Wir waren auf irgendwelchen Straßen irgendwelche Leute, von denen ein jeder hätte glauben können, wir wären ein Serbe mit einer Perserin oder ein Russe mit einer Maghrebinerin oder jedes sonstige mögliche Pärchen auf Arbeits- und Haussuche bei den Borealen. Wir waren häufiger auf Brücken als auf Straßen. Wasser machte Zuleika traurig. War mithin die ganze Wüste eine Lüge? Die Menschen, die wegen der Wüste schossen und die Ärzte, welche die Beschossenen operierten, waren ein Umstand? Gewiss, das war nicht meine Welt, und dennoch war es so, als hätte ich ihr auf Schritt und Tritt gesagt, sieh an, dies ist meine Welt! Wir aßen immer auf der Straße, wollten nicht anhalten, wollten uns nicht setzen, wollten nichts Neues lernen. Es gab keinen einzigen Vogel, keinen Staub, keine Häuser, bloß Ämter. Zuleika überlegte, ob sie mir es sagen sollte oder nicht. Dann musste sie auch überlegen, was sie mir sagen sollte. Das Wesentliche kann uns nicht berühren. Wir zogen es vor, in jedem Fall nützlicher, uns mit Präzision zwischen den Details zu bewegen zu wissen. Von wem Zuleika schwanger war, war für sie ein Detail und für mich etwas Wesentliches. Wir lernten Einer vom Andern (Einer über den Andern). Wir hatten vereiste Gesichter. Meine Knochen erinnerten sich in effizienter Weise an die Winter von Temeschwar, doch Zuleikas Knochen schrien vor Schmerz, ihr Gesicht erblasste, ihr kantiges und sanftes Gesicht, fahlbraun und glänzend, fröhlich auf der einen Seite, traurig auf der anderen, mit Augen, die rollten wie Eicheln. Ein Polizist hielt uns an und fragte, ob er uns helfen könne. Er hatte einen breiten Pelzkragen. Wir wirkten ziemlich verirrt... Ein weißer Bogen war am Himmel, aber er spiegelte sich nicht im Wasser. Schnee gab es keinen, obwohl ich nicht glaube, dass Schnee Zuleika sich hätte besser fühlen lassen. Wir hatten dort Kleider gekauft, dickere, als sie bisher je getragen hatte, weite Hosen und graue Schnürstiefel, eine enge Stoffjacke. Mit bloßem Kopf, zu meiner Verzweiflung. Es war wie in einer Reklame für ein Einkaufszentrum. Wenn der Wind wehte, lächelte sie und ihr Haar flatterte, als hätte ihr jemand einen Ventilator vors Gesicht gehalten und ein anderer das Ganze gefilmt. Und tatsächlich befanden wir uns auf einer fremden Straße, erhellt nicht vom Himmel, sondern von den Fenstern der verlassenen Häuser, was immer wir sagten schwoll an in der feuchten Luft. Zum Glück waren Leute auf der Straße, andauernd, Leute mit Kindern und ohne Kinder, Frauen mit Männern und ohne Männer, Männer mit Frauen und ohne Frauen. Wir waren zerstritten. Vielleicht waren auch die anderen Pärchen zerstritten. Viele der Frauen, wie auch Zuleika, waren schön, leuchtend, sorglos, vielleicht schwanger von einem anderen Mann. Die Stimmen hatten ein ungewisses Echo, zerrissen vom Wind. Zuleikas Stimme. Ich ging mit ihr an einen Ort, von dem mir später klar wurde, dass es die Flora-Terrasse war, im Alpinet-Park (unter der Traian-Brücke gab es noch keine Kneipe, erst in den letzten Jahren hat dort ein Jazz-Club eröffnet). Damals erschien er mir wie eine Armee von Kreuzfahrern, die an einem Markttag Damietta überfallen. Wir setzten uns an einen Tisch und ich bekam einen Saft in einem Glas so lang wie eine Dachrinne und erbaut in calcio vecchio, in dem Zitronensaft war. Kostete 14 Lei. Enorm. Darin war ein Strohhalm, dessen eines Ende ich mir ins Ohr steckte, dann unter meiner Nase entlang führte und das andere Ende ins andere Ohr steckte. Milena bestellte sich 100 Milliliter Wodka und war ganz ruhig. So wie ich jetzt. Fast jedes Mal fand sich ein Mann, der dort herumscharwänzelte. Für gewöhnlich mehrere. Andere Male bloß die Kellner, und obschon sie die Kellner gut kannte, wagte keiner von ihnen jemals, aufdringlich zu werden. So sagte man damals, aufdringlich. Unter den Kellnern war einer, der mir alle möglichen interessanten Dinge brachte, einfache oder komplizierte, eine Kastanie, einen Hubschrauber. Ich war damals drei Jahre alt (dann vier, dann fünf Jahre vielleicht). Milena muss wohl eine Abmachung mit ihm gehabt haben, in deren Rahmen sie ihm entweder klargemacht hatte, dass sie keine seiner Avancen je dulden würde, oder dass sie ihm ausreichendes Trinkgeld gäbe, um die kleinen Geschenke zu begleichen; wie auch immer, sie ließ ihn mir diese Freuden bereiten. Drum herum war es voll von Kastanien und Hubschraubern (aber geschenkt in verschiedenen Jahreszeiten). Ich war glücklich mit Milena, mit Vater, mit dem Kellner, mit der Flora-Terrasse, von der ich nicht wusste, was sie war. Milena bestellte sich noch 100 Milliliter Wodka. Sie war sehr jung, aber eine reichlich harte Frau. Die Mutter ist, für die Mehrheit der Männer, die einzige Frau, die zu verstehen es keine Chance gibt. Einmal setzte sich an unseren Tisch, ohne um Erlaubnis zu bitten, ein Mann. Milena nahm mich in den Arm. Er hatte weniger Mut, als sich glauben lässt. Ohnehin hatten die Kellner sofort verstanden, was geschah, und kamen zu uns. Der Mann verschwand, ich habe ihn nie wiedergesehen. Vielleicht wollte er kein Aufsehen erregen, vielleicht war er ein überaus seriöser oder intelligenter Mann und hatte sich linkisch benommen, indem er sich an ihren Tisch setzte, ohne um Erlaubnis zu bitten, oder er war verstört von ihrer Erscheinung, oder vielleicht war er sehr jung, ja, sehr jung, und glaubte, so begönnen große Beziehungen, in einem Park, indem man sich einfach an den Tisch einer Frau mit einem kleinen Kind setzte, die einen Wodka trank auf der Flora-Terrasse, wo, wenn man Glück hatte, Olivia Newton John oder Nana Mouskouri sang. Oder er hatte sich gesetzt, weil Milena ein Tuch trug mit Quadraten, eins weiß und eins schwarz, wie er es an einer Russin in der orthodoxen Kirche in Oxford gesehen hatte (1 Canterbury Rd.), oder weil sie mit übereinander geschlagenen Händen am Tisch saß, mit Händen buchstäblich so weiß wie Marmor, der Vergleich passt, wenn er auch selten richtig verwendet wird, weil der Marmor, ein metamorpher körniger Kalk, dem Licht einige Zentimeter ins Innere vorzudringen gestattet, na ja, durch die Haut ihrer Hände drang das Licht tief in ihr Fleisch und ließ es leuchten wie das Filigran der cancelli. Das Leben hat gewiss, in der Kindheit, eine ganz andere sensorische Qualität. Zuleikas Hände waren so unterschiedlich, wie sie nur sein konnten. In erster Linie, weil sie nie an einem Ort verharrten; oftmals rupfte und zupfte sie, während wir uns unterhielten, an einem Knopf, bis er abriss, und nähte ihn mir auf der Stelle wieder an, ohne dass ich dessen inne wurde. Ihre Finger waren überall, plötzlich war ein Teller Fisch mit Reis und Blättern vom Affenbrotbaum fertig, gleichzeitig mit dem Schluss der Unterhaltung und einem Glas Sauerampfer- oder Ingwersaft dazu, oder das Bett war gemacht, unten in unserem Zimmer im Centre Marcel Junod, oder sie ordneten auf alle mögliche Weise die Kissen oder Teetassen in einem Zelt in Adrar – was auch immer sie taten, ihre Hände kamen stets zu mir, um mich zu berühren und zu prüfen, fast mechanisch, hatte ich am Anfang geglaubt, und dann strichen sie mir durchs Haar... Ihre Hände waren karamellfarben, außer wenn sie sich ärgerte, dann waren sie olivfarben. Sie ärgerte sich bisweilen, aber niemals, wenn wir stritten. Eine prächtige und sehr effiziente Hand, das Kahnbein und das große Vieleckbein sehr beweglich, die Flexoren und Thenaren exzellent, besonders der opponens pollicis, und die Sesambeine nicht wahrzunehmen. Ihre Erscheinung war starr, weil die Hände so distinkt waren. Samstags, wenn ich zu ihr nach Essouk fuhr (zu ihnen nach Essouk fuhr), setzte sie mir den Tee vor, ohne dass die Oberfläche der Flüssigkeit gezittert hätte; im Gegenzug war ihre Erscheinung die eines Menschen, der auf einem zwischen zwei Häusern ausgespannten Seil dahinläuft. Selbst jetzt weiß ich nicht, warum ich hinfuhr. Ich fuhr mit brennendem Verlangen hin, aber ohne den Mut, mein Verlangen zu befriedigen. Ich werd Dir die Wahrheit sagen: Ich fuhr wegen einer Frau, wegen dieser Zuleika (Deine Mutter, später, doch damals wusste ich nicht, dass sie Deine Mutter sein würde). Die Erwachsenen, selbst Deine Eltern, alle sind getrieben von jugendlichem Verlangen, bis ins hohe Alter. Sie sind getrieben wie eine Büffelherde. Ich wusste, dass ich sie, indem ich hinfuhr, in eine unmögliche Lage versetzte. Wenn eine Frau Probleme mit einem Mann hat, dann hasst sie es, einem zweiten Mann Platz in ihrem Leben zu machen, leichter kann man sie erobern, wenn bei ihr alles wie am Schnürchen läuft. Und trotzdem wurde ich in Essouk, zwischen den schroffen Granithügeln, zu einem Menschen aus Sand. Der Mensch aus Sand, der eine gute Vorbereitung auf den Menschen aus Eis aus Schweden ist.
Cătălin Pavel (geb. 1976) ist Doktor der Archäologie. Ausgrabungen in Rumänien, Marokko, Frankreich, Deutschland, England, Israel und besonders der Türkei (Milet, Gordion und von 2005-2010 in Troja) mündeten in akademische Bände wie Describing and Interpreting the Past (Verlag der Universität Bukarest, 2010) und Dicţionar de Mitologie Greco-Romană (Ko-Autor) (Corint Verlag, 2011), aber auch in eine ständige Archäologie-Rubrik in dem Wochenblatt Dilema Veche (seit 2016). Sein letztes Buch ist der Wissenschaftskommunikation gewidmet (”Arheologia iubirii” [Die Archäologie der Liebe], Humanitas, 2019). CEREFREA-Stipendiat an der Pariser Sorbonne, Chevening-Stipendiat an der Universität Oxford, Andrew W. Mellon-Stipendiat am Albright-Institut für Archäologie in Jerusalem. Lyrik-Bände: Altera Pars (Ed. A.T.U., 2013, Mircea Ivănescu-Preis), Tulburarea la fiinţele vii (Ed. Limes, 2014), Doi oameni într-o poză (Ed. Limes, 2015) und Adagietto (Ed. FrACTalia, 2016). Romane: Aproape a şaptea parte din lume (Humanitas, 2010, Bibliofagia-Preis), Nicio clipă Portasar (Cartea Românească, 2015), Trecerea (Cartea Românească, Preis des Ziarul de Iaşi, 2016, nominiert für den Preis der Rumänischen Schriftstellervereinigung - USR), Chihlimbar (Polirom, 2017, Preis der USR). Für 2017-2019 wurde er für das von der Europäischen Union kofinanzierte CELA-Programm ausgewählt, das sich der Förderung einer neuen Generation europäischer Schriftsteller widmet.
Stefan Moosdorf lebt seit 2006 in Bukarest, arbeitet als Deutschlehrer und übersetzt sowohl Literatur - Ioan Groşan, Die Kinokarawane. Erzählungen, Achilla Presse Verlagsbuchhandlung, Butjadingen, 2010 - als auch wissenschaftliche Texte - Constantin Noica, Briefe zur Logik des Hermes, Verlag Traugott Bautz, Nordhausen, 2011 (mit Cristian Ferencz); Edda Binder-Iijima et. al. (Hrsgg.) Gedächtnis der Literatur. Erinnerungskulturen in den südosteuropäischen Ländern nach 1989. Rumänien im Blickfeld, Pop Verlag, Ludwigsburg, 2010.