Nach drei Seiten hin Fenster
Die Wohnung, die ich vor einem halben Jahr bezogen habe, kann man durch den Vorder- oder den Hintereingang betreten. Um zur vorderen Tür zu gelangen, komme ich an einem japanischen und einem italienischen Restaurant vorbei, an einem Cupcakeladen, einem von Portugiesen geführten internationalen Kiosk, der Heilsarmee-Gassenküche und einem Laden mit afrikanischen Produkten. Der Weg zur Hintertür führt durch eine niedrige Einfahrt. Ich quere einen Hinterhof, worin Kinder oft bis spät Ball spielen. Aus den Wohnungen dringen Geräusche, Gerüche nach draussen, in einem Fenster hängt die Schweizerfahne. Das Haus, in dem ich lebe, liegt Rücken an Rücken mit einem spanischen Restaurant, eine der besten Adressen der Stadt, sagt man.
Es ist eine helle Wohnung im Erdgeschoss, nach drei Seiten hin kann ich aus dem Fenster schauen. Weil der Empfang schlecht ist, stelle ich mich zum Telefonieren meist ans Fenster im Wohnzimmer. Draussen gehen Menschen mit Einkaufstaschen und Gemüse vorbei, Autos werden geparkt, Kinder flitzen auf Skateboards herum. Wenn ich das Fenster öffne, kann man von aussen in die Wohnung schauen. Es hat etwas seltsam Vertrautes, wenn einem ein Passant in die Augen blickt, der auch telefoniert.
Schon als Kind sass ich gern am Fenster und habe auf die Kantonstrasse hinausgeschaut, die an unserem Haus vorbei querfeldein über Land führte. Im Fliederbusch, der zwischen dem Haus und der Strasse stand, hing im Winter ein Futterhäuschen für Vögel. Darunter duckte sich die Katze; jedes Mal, wenn ein Vogel kam, war ich ganz aufgeregt. Ich hätte es der Katze nicht verziehen, wenn sie einen Vogel gefressen hätte, aber vertrieben habe ich sie nie.
Als ich an einem kalten Sonntagmorgen die Fenster meiner Wohnung öffnete, um frische Luft einzulassen, sah ich einen Mann. Er kam in einem grossen Bogen herangeschlichen, als wollte er seine Ankunft verzögern. Als er vor mir stand, fragte er nach Geld, um seinen Kindern Essen zu kaufen. In der Nähe hatte nur die italienische Feinbäckerei offen. Ich gab ihm, mit dem üblichen Zwiespalt, einen Teil dessen, was da war. Später sah ich ihn mit einem grossen Hefegebäck. Mehr kann man in der Feinbäckerei für dieses Geld nicht kaufen.
Beim ersten Sturmregen dann schaute ich zu, wie die grossen Rollcontainer vor dem Haus über die Strasse getrieben wurden. Sie fuhren langsam hintereinander her, zielten nach hier und nach dort, Autos mussten ausweichen. Als nach dem Sturm wieder Ruhe eingekehrt war, fiel mir auf, dass das Mädchen und der Junge verschwunden waren, die den ganzen Sommer über jeden Abend an der seitlichen Hauswand gesessen waren. Sie hatten stundenlang geredet, ohne zu rauchen, ohne zu küssen.
Eingebrochen wurde noch nie, seit ich hier lebe, aber ich weiss, dass vor Jahren an einem Samstagmorgen ein Computer aus dieser Wohnung gestohlen wurde. Es ist die Zeit, in der die Strassen hier so leer sind wie sonst nie, die Ausgänger sind nach Hause gegangen, die Anwohner schlafen noch. Jemand muss hinten beim Küchenfenster eingestiegen sein, bevor er die Wohnung durchquert hat und im Wohnzimmer durchs Fenster wieder ausgestiegen ist.
Die Küche ist schmal, es gibt keinen Platz für einen Tisch. Ich esse oft am Fensterbrett; zu zweit sitzt man hier nah beisammen. Wenn Besuch kommt, kann man im Wohnzimmer unter der schönen Lampe essen oder in der Sofaecke einen Apéro nehmen.
Vom Küchenfenster aus sieht man in den Hinterhof, wo die alten Fahrräder stehen, die teuren Räder bringen alle in den Keller. Gegenüber sind an der Rückwand des spanischen Restaurants die Abfallcontainer aufgereiht. Menschen kommen vorbei, auf der Suche nach essbaren Resten. Manche schauen sich um, wenn sie etwas gefunden haben, bevor sie sich an die Wand lehnen und essen. Am frühen Vormittag schütten Angestellte kistenweise leere Weinflaschen in den Glascontainer. Weinpreise gibt die Speisekarte des Restaurants nicht an.
Buchskugeln säumen den Eingang des Restaurants, sommers werden auf dem Vorplatz Apéros gegeben. Zum Hinterhof hat man vom Restaurant her nur vom Fumoir Zugang. Rauchende Menschen in Anzügen stehen zwischen unseren alten Fahrrädern und ihren teuren Wagen herum, treten ihre Zigarren aus, trinken, entdecken nach kurzer Zeit die Fahrradglocken. Ihre Wagen stellt der Parkwächter hier ab, am Ende der langen Abende zirkelt er sie wieder aus dem engen Hinterhof. Es erinnert mich daran, wie ich als Kind einen Schraubenzieher genommen und damit eine schön geschwungene Spirale aus dem Lack unseres Autos gezogen habe. Manche kommen im Hinterhof vorbei, bevor sie sich auf den Nachhauseweg machen, lassen die Anzugshose herunter und pinkeln erstklassige Spirituosen an die Wand.
An Weihnachten gab es zum Frühstück Lachs. Vor dem Küchenfenster ging ein Mann vorüber. Er schaute herein, zuerst zögerlich, dann neugierig. Ich habe gewinkt, er hat zurückgewinkt und ist weitergegangen, aber einen Moment später stand er wieder vor dem Fenster. Ich zögerte, bevor ich das Fenster öffnete. Ob hier eine Wohnung frei wäre, wollte er wissen. Ich wusste von nichts, wies aber auf das Haus gegenüber, vielleicht, sagte ich, sei es das Nachbarhaus, das er suche.
In die Waschküche gelangt man nur durch den Hinterhof. Noch heute sitzen an manchen Tagen Menschen im Abgang, rauchen Folie, äusserst selten sieht man noch Spritzen. Man hat andere Plätze für diese Menschen geschaffen, am Rand dieser Stadt, die vor Kurzem noch für ihre offene Drogenszene berühmt gewesen war. Sie entschuldigen sich, weichen aus, und bis man die Wäsche wieder holt, sind sie weg. Meist schon, wenn man nur den Waschgang gestartet hat.
Wenn ich hinaufsteige zur Dachterrasse, kann ich in die Wohnungen schauen, die über dem spanischen Restaurant liegen. Im ersten Stock steht häufig ein Mann im Unterhemd am Fenster. Ihn kann ich schon vom Küchenfenster aus sehen, manchmal steht er ohne Unterhemd da. Aber weder von der Küche noch vom Treppenhaus aus kann ich erkennen, ob er mich auch sieht. Vielleicht sind es die Fensterscheiben, die sein Unterhemd schmutzig wirken lassen. Oder es ist mein Blick; direkt über einer der besten Adressen hat man Sozialwohnungen eingerichtet.
Kurz bevor ich mich aufmachte, um das erste Mal für eine längere Zeit in einer Grossstadt zu leben, kam ans Tageslicht, dass in Milano hunderte chinesischer Arbeiterinnen und Arbeiter in Kanalisationen gelebt hatten. Sie arbeiteten in Schneidereien von italienischen Modekonzernen zu einem Tiefstlohn. Den Konzern kam das billiger, als die Arbeit ins Ausland auszulagern. In Las Vegas richten sich Menschen immer wieder mit viel Liebe zum Detail neu ein, wenn der Regen ihr Interieur einmal mehr aus den Flutkanälen weggeschwemmt hat.
[1] Und auch in New York leben Menschen in den Untergrundbahnen, aber die Strassenschluchten dort sind sonnendurchflutet, weil man früh schon ein städtebauliches Gesetz erlassen hat, welches vorschreibt, dass Hochhäuser in Manhattan nach oben hin schmaler zulaufen müssen.
Im vierten Stock lebt ein Mann, der einen Vogel auf der Schulter trägt. Von irgendwoher klingt tagein tagaus Musik. Auf dem Dach angelangt, blicke ich hinunter auf eine der teuersten Städte der Welt. Aus allen Gassen dringen Geräusche herauf, Sonnenlicht gibt es hier im Überfluss.
Kürzlich habe ich in der Küche einen Kaffee getrunken. Zwei noch sehr junge, aber erwachsene Männer haben Eimer durch den Hinterhof getragen. Wir haben uns angeschaut, einander zugenickt. Dann habe ich gesehen, wie sie im ersten Stock das Fenster aufgerissen haben. In diese Wohnungen gelangt man nur durch den Seiteneingang; wie viele Einheiten es tatsächlich sind, kann man am eng beschriebenen Klingelschild ablesen. Der Mann im Unterhemd ist kurz hinter den beiden Männern aufgetaucht. Dann ist er wieder verschwunden, und die beiden haben sich mit spitzen Fingern Handschuhe übergezogen. Der eine hat sich aus dem Fenster gebeugt und in den Hinterhof gespuckt, vor mein Fenster. Er hat mich angeschaut, entschuldigend die Schultern hochgezogen und sich an seine Arbeit gemacht. Als die beiden Männer das Haus durch den Dienstboteneingang
[2] wieder verlassen haben, war mein Kaffee kalt. Ich habe ihnen hinterher geschaut und darüber nachgedacht, ob der Fliederbusch noch steht, und darüber, dass Vögel noch immer keine Katzen fressen.
© 2020 Tabea Steiner
[1] Nicolas Steiner: „above and below“. In seinem Dokumentarfilm erzählt Steiner in sich ineinander verwebenden Strängen vom Leben unter der glattgeriebenen Oberfläche.
[2] Maria S. Rerrich: "Die ganze Welt zu Hause". Rerrich schildert das Leben von cosmobilen Putzfrauen. Das sogenannte Bodenpersonal der Globalisierung erledigt Aufgaben, die man nicht in Billiglohnländer outsourcen kann.
Tabea Steiner, geb. 1981 studierte Germanistik und alte Geschichte in Bern. Sie erhielt 2009 den Literatur-Förderpreis der IBK zugesprochen und nahm 2011 an der Autorenwerkstatt am LCB teil. Den Sommer 2014 verbrachte sie als Artist in Residence in Genua. 2017 wurde sie mit einem Kulturförderpreis des Kantons Thurgau ausgezeichnet und ist 2019 Stipendiatin am LCB. Sie hat das Thuner Literaturfestival initiiert, ist Mitorganisatorin des Berner Lesefestes Aprillen und Mitgliedder Jury der Schweizer Literaturpreise. Ihr erster Roman "Balg" erschien im Frühjahr 2019 in der Edition Bücherlese und wurde für den Schweizer Buchpreis nominiert. Tabea Steiner ist Mitglied der Autorinnengruppe RAUF un lebt in Zürich.