Da sie 1989 geboren wurde und keine eigenen Erinnerungen an die Zeit „davor“ hat, wird sie die nahe Vergangenheit von Null an rekonstruieren müssen. Der Regisseur, mit dem sie zusammenarbeitet, setzt sie ständig unter Druck, ihm neue Versionen des Drehbuchs zu schicken, mit denen er allerdings unzufrieden ist, sodass die Geschichte so verbogen wird, dass kein Element mehr mit der historischen Wirklichkeit zusammenhängt.
In der Zwischenzeit stirbt Sonjas Vater, der von frühester Kindheit an in ihrem Leben abwesend war. Ihre Halbschwester beruft sie für die Testamentseröffnung ein. So gelingt es Sonja, auch ihren Großvater väterlicherseits kennenzulernen − eine kontroverse Figur in der kleinen Provinzstadt, in der er lebt. Von ihm erhofft sich Sonja einige Antworten auf die Fragen zu bekommen, die sie sich, bezogen auf die Vergangenheit, stellt.
Der Roman
Sonja meldet sich erscheint demnächst im Polirom Verlag. Lesen Sie unten einen Auszug daraus.
SONJA MELDET SICH
Vlad nimmt sich noch eine Maisdose und eine Tüte Salat-Mix, zahlt an der Kasse. Danach gehen sie zusammen zu dem kleinen Marktplatz, wo sie sich auf eine Bank setzen, die von zwei großen, roten Mülleimern flankiert ist. Er öffnet die Maisdose, lässt die Flüssigkeit daraus neben einem Baum abtropfen, dann reißt er auch die Salattüte auf und fängt an, abwechselnd Mais und Salat mit der Hand zu essen. Die Thunfischdose hat er in seine Umhängetasche gepackt.
„Willst du auch was?“, fragt er und reicht ihr die Dose.
„Wer bist du und woher kommst du?“, fragt sie und merkt dabei, wie er lächelt, während er ein paar Blätter zermalmt.
„Isst du immer so etwas auf der Straße?“, fragt sie ihn.
„Nein, normalerweise esse ich nicht auf der Straße, da du jetzt aber dabei bist, traue ich mich.“
Während er sich die Maiskörner in den Mund schüttet, als sei er die Ikone eines Werbespots, schaut er sie an.
„Ich wünschte, ich wäre auch so frei“, denkt sich Sonja.
Vlad Petre kommt ihr mehr als verrückt und unverschämt frei vor.
„Pass auf, ich habe mit dem Securisten gesprochen, damit du ihn treffen kannst…“, beginnt Vlad. „Nur wird er nicht zugeben, dass er Securist war. Ich weiß aber sicher, dass er es war. Sag ihm, dass du ein Buch über sein Leben schreiben möchtest. So fühlt er sich geschmeichelt und das wird ihm die Zunge lösen. Er hat in Buftea als Stuntman gearbeitet. Stell dir das mal vor… Du könntest ihn als Vorlage nehmen, für solche Figuren, die einer Affäre Blessuren hinzufügen.“
Vlad sieht Filmcharaktere wie Ware an, die überall auf der Welt, egal, wo man geht oder steht, verfügbar ist, die nur eingesammelt und zusammengefügt werden muss.
„Kommst du mit?“, fragt sie.
„Ich gebe dir schon mal seine Nummer und dann schauen wir. Vielleicht könnten wir am Mittwoch um zehn hinfahren. Ich habe ihm gesagt, dass du zu ihm kommst.“
Am Mittwoch um zehn Uhr steht sie bereits seit einer halben Stunde vor ihrem Hochhaus und wartet auf Vlad, der schließlich in seinem Auto erscheint. Sie sitzen zusammen in diesem verschlossenen Raum. Eine undefinierbare Angst durchfährt sie.
Während der Fahrt spricht keiner von ihnen.
Ioniță wartet an der Ecke auf sie.
„Das ist das Mädchen“, sagt Vlad und lässt seine Hand eine gefühlte Ewigkeit auf ihren Schultern liegen.
Ioniță lacht und seine kaputten Zähne kommen zum Vorschein. Schon am frühen Morgen stinkt er nach Alkohol.
„Erstmal musst du mir genau erklären, was du vorhast“, sagt er richtig gut gelaunt und interessiert.
„Gehen wir nicht rein?“, fragt Vlad.
Ioniță antwortet geheimnistuerisch leise und zieht dabei eine ausdrucksstarke Grimasse, die all seine Gesichtsfalten in Bewegung bringt.
„Nein, Vlad, Mensch, da drinnen herrscht Chaos. Ich schäme mich.“
„Kommt diese Frau, die den Haushalt schmeißt, gar nicht mehr vorbei?“
„Wozu soll sie denn noch kommen…?“, fragt er betrübt.
Sonja ist von dieser vermeintlichen Freundschaft überrascht. Dadurch wirkt Vlad eigenartiger und interessanter. Vielleicht sammelt er nur Material für Geschichten, aber vielleicht ist er auch ernsthaft an Ionițăs Schicksal und an dem der Frau, die unter anderem bei ihm putzt, interessiert.
„Wir setzen uns lieber hierhin. Gib mir mal eine Zigarette“, sagt er noch, und Vlad, der auf diesen Moment gewartet hat, holt eine ungeöffnete Packung aus seiner Hosentasche heraus und gibt sie ihm.
Ioniță erhofft sich, für eine gefährliche Szene angestellt zu werden. Er beginnt damit, Sonja seine Kompetenzen aufzutischen und ihr zu sagen, wozu er so alles fähig ist. Seine Eltern haben im Zirkus gearbeitet, zweiundzwanzig Jahre lang war er Profi-Motorradfahrer. Er versichert ihr, dass er sich nicht aufs Maul legen wird, sondern sich nur in die Kurve legt.
„Ich bin dann mal weg“, sagt Vlad und zieht sich zurück.
Unbeholfen dreht sich Sonja zu ihm.
„Wir sprechen später, okay?“, meint er, steigt ins Auto und schlägt die Tür zu.
Jetzt braucht sie Vlad nichts mehr fragen.
„Also, was genau interessiert dich?“, fragt Ioniță, während er den Zigarettenrauch zur Seite pafft.
Ihm ist klar geworden, dass es hier nicht um einen Job geht.
„Was möchtest du hören?“
„Ganz genau weiß ich das nicht“, sagt sie und fühlt sich plötzlich chronisch müde, so als ob sie Gott wäre und gerade das Land vom Wasser trennen müsste. Wie sollte sie diese Sache anpacken?
„Ich habe so ziemlich alles gemacht“, erzählt ihr Ioniță. ”Ich war Feuerakrobat, bin mit dem Motorrad hochgesprungen, mit dem Auto, bin vom Fenster gesprungen, auch vom… na, wie heißt das denn nochmal?“
Er macht eine Geste mit der erhobenen Hand.
„Vom Dach?“
„Nein, Mensch, vom Waggon! Ich habe gebrochene Knochen, an der Hand, die kleinen hier, die größeren auch, hier an der Schulter, zwei Mal habe ich mir dieses Bein gebrochen, diese hier auch noch. Schau mal…“
Er zieht sein Unterhemd hoch und zeigt ihr einen Fleck verbrannter Haut.
Der Mann erzählt so wie Mitică Dragomir, der ehemalige Präsident der rumänischen Fußball-Profiliga in seinem unendlichen, langweiligen Buch. Er ist ein bisschen herzlicher als er, doch trotzdem sind es hunderte von Seiten mit unwichtigen Informationen. Er spricht, sie hört ihm zu und irgendwann stoppt sie ihn plötzlich:
„Haben sie denn jemanden von der Securitate gekannt?“
Für einige Sekunden hält Ioniță kurz inne. Er zieht eine grantige Miene, die bis in die letzten Falten seiner Haut reicht, und lässt die Wörter herauskommen, nachdem sie sich durch seinen Mund gewunden haben:
„Ach was! Von wegen Securitate, Mensch. Das ist ein Blödsinn! Wenn ich euch von Securitate reden höre… Ihr jungen Menschen solltet nicht mehr alles glauben, was ihr den lieben langen Tag im Fernsehen seht.“
„Deswegen frage ich Sie nicht. Ich sehe nicht fern. Ich war nur neugierig, wie es ist, ein Securist zu sein. Vielleicht würde mir das für meine Figur helfen. Hat man sich schuldig gefühlt?“
„Pass auf! Alle gehörten der Partei an. Sie zwangen dich dazu. Das war so: Wenn man der Partei nicht angehörte, hatte man keine Arbeit und auch sonst nichts.“
„In einem Buch habe ich gelesen, dass die bei der Securitate auch einen Plan B hatten, wenn sie jemanden anwarben. Falls das Subjekt nicht bereit war, zu kooperieren.“
„Wow! Das hast du so in einem Buch gelesen. Pass mal auf, ich sag‘s dir, wie das war, ich habe das durchgemacht, du nicht. Wie alt bist du?“
„Die Zeiten habe ich nicht mehr erlebt…“
„Aha, siehst du? Ich sag’s dir, das war keine große Sache. Die wollten nur wissen, wer Dollars hat, wer Witze reißt und andere solche Sachen. Ich, der Unterzeichnende, bringe zur Kenntnis, dass X, Y oder Z um drei Uhr nach Hause gekommen ist, eine leere Tasche bei sich trug und nicht auffällig war. Verstehst du? Dann ließen sie dich in Ruhe. Die Sachen habe ich sowieso nur erfunden. Ich konnte doch nicht den ganzen Tag vor dem Fenster hängen oder auf der Arbeit hinter jedem her sein, um zu gucken, wer bei welchen Witzen lacht. Ich sags’s dir, jeder hat es getan.“
„Das ist doch kein Argument! Haben Sie nie daran gedacht, dass Sie jegliche Mitarbeit hätten ablehnen können?“
„Wie? Meinst du, dass das Mitarbeit war? Ich habe doch keinen umgelegt! Sonst hätten sie das mit mir getan! Wie oft ich schon ins Krankenhaus musste… Hast du überhaupt eine Ahnung davon, was es bedeutet, Vitamin B zu haben oder nicht zu haben?“
„Ja, klar! Heutzutage ist es genauso.“
„Das stimmt nicht. Heutzutage kann man in die Privatklinik gehen, wenn man Geld hat. Damals hat das Geld nicht weitergeholfen, wenn sie einen nicht beachtet haben.“
Eines ist klar: Sie kann mit ihm nicht gut umgehen. Ioniță regt sich immer mehr auf.
„Erzählen Sie mir doch etwas Anderes.“
„Mensch, ihr versteht das nicht. Nichts versteht ihr! Euch gefällt es, zu verurteilen. Ihr habt überhaupt keine Ahnung!“
„Vielleicht versuchen wir, zu verstehen.“
„Was versteht ihr? Wie ich sehe, erzähle ich dir das alles umsonst. Jeder hat verpfiffen.“
„Aber warum? Das ist das Problem. Warum?“
Vor Wut zerquetscht Ioniță den Stummel und zieht noch eine Zigarette heraus.
„Nun gut“, sagt Sonja.
Sie hat ihn verloren, das spürt sie, und sowieso wusste sie, dass es vergeblich sein würde, sich mit ihm zu treffen. Je mehr sie mit Menschen über die Vergangenheit spricht, die ihre eigenen Erinnerungen haben (sie denken tatsächlich, dass es damals so war und dass in ihren Köpfen alles unverändert geblieben ist), desto verwirrender wird das Bild der Vergangenheit, anstatt an Kohärenz zu gewinnen.
„Vielleicht werden wir in dreißig Jahren, wenn wir auf diese Jahre zurückblicken….“, sagte sie eines Tages zu Dani, „ich meine nicht dich und mich, sondern uns, Menschen aller Alter und Berufe aus diesem Land, wenn wir dann zurück auf die heutige Zeit blicken, dann werden wir entdecken, dass wir eine Erfahrung miteinander teilen. Unsere unterschiedlichen Erinnerungen werden eine Logik ergeben. Wenn ich jetzt aber zurückblicke, durch die Augen dieser Menschen, mit denen ich rede, weil ich nur diese Möglichkeit habe, dann kommt mir alles so zerstreut vor. Wie soll ich das sagen… so als ob die Vergangenheit auf allen Wänden explodiert wäre. Jeder geht nur von seinem eigenen Standpunkt aus.“
„Vielleicht hat diese Liste der gewaltsamen Verbote die Menschen dazu gebracht, sich in den Ecken ihrer Seelen zu verstecken und darum haben sie einen so persönlichen Bezug dazu. Und vielleicht kommt noch hinzu, dass keine Themen von besonderem Interesse öffentlich besprochen wurden?“
„Wie kann man herausfinden, wie es war?“, fragte Sonja und schmollte.
„Süße. Du nimmst dir die Infos, die du brauchst. Das ist doch nur Fiktion.“
„Historische Fiktion.“
„Mondän-historische Fiktion.“
„Glaubst du, dass wir zu hart zu unseren Eltern sind, wenn wir über sie urteilen, weil sie nichts getan, nichts bewegt haben?“
„Nein. Sie wissen, dass sie nichts getan haben. Sie stehen mit gesenktem Kopf da, weil sie sich schämen.“
„Deine vielleicht.“
„Ja, meine“, sagte Dani. „Zumindest wählen sie, wen ich ihnen sage.“
Ioniță redet weiterhin um den heißen Brei herum, zwei Mal widerspricht er sich sogar. Er rechtfertigt sich nicht mehr. Ehrlich ist er auch nicht, so als ob er versuchen würde, etwas oder jemanden zu beschützen, vielleicht sich selbst.
„Sagen Sie mir nur noch eine Sache“, bittet ihn Sonja. „Haben Sie das Ende kommen sehen?“
„Wie meinst du das?“
„Haben Sie den Untergang vorausgesehen? Oder dachten Sie, dass es nie zu Grunde gehen würde?“
„Niemals! Ich habe nie geglaubt, dass es enden könnte, alles schien so gut geordnet. Wie soll ich das sagen… stabil.“
„Man wusste aber, dass Ceauşescu krank war.“
„Ja, aber sein Sohn bereitete sich darauf vor, alles zu übernehmen. Nicuşor war nett. Einmal hat er in Sibiu die LKWs, die ins Ausland hätten fahren sollen, angehalten. Er sah wohl, dass die Menschen nichts zu essen hatten.“
„Na und? Wurden alle Probleme gelöst, weil er ein Mal drei LKWs angehalten hat?“
„Mensch, du hast schon wieder ein Einstellungsproblem“, sagt der Mann und schüttelt unzufrieden seinen Kopf.
Diesen Ioniță kennt sie überhaupt nicht, deswegen fällt es ihr schwer, herauszufinden, ob er ausschweifend ist, um sie durcheinanderzubringen, weil er Angst davor hat, ihr Informationen zu liefern, oder ob er von seiner Art her so ist, ein tüdeliger Mensch, mit von einer zur anderen Minute extrem schwankenden Erinnerungen.
Daher will sie nicht mehr länger in seinem Fall ermitteln.
Da sie sich schuldig fühlt, weil sie ihm seine Zeit geraubt und ihn enttäuscht hat, würde sie ihm gerne etwas schenken. Über ihn und die Schäden, die ihm sein Beruf zugefügt hat, wird sie bestimmt kein Buch schreiben.
Sie lässt ihn die Hand in der Hosentasche steckend an der Straßenecke stehen, überquert die Kreuzung, geht in einen Mega hinein und sucht die Getränkeabteilung. Sie überlegt, ihm einen Wein zu kaufen.
Ganz oben, im letzten Regal, da, wo sie mit der Hand nicht mehr herankommt, ist noch eine einzige Flasche Rotwein über, von einer bestimmten Sorte. Diese möchte sie für Ioniță haben. Etwas Anderes möchte sie nicht, auch nichts Ähnliches, auf diese Flasche, die sie hinten im Regal kaum sehen kann, hat sie sich fixiert. Sie schaut nach links und rechts, nach einem Angestellten, den sie um Hilfe bitten könnte, sieht aber niemanden. Normalerweise sind sie überall, wimmeln durch das ganze Geschäft, zusammen mit ihren Chefs, gefolgt von dem Wachpersonal, jetzt aber ist niemand in Sicht. Sie wartet eine ganze Weile am Getränkeregal und trägt den innerlichen Kampf aus, indem sie wartet. Wenn sie aufgibt und das Geschäft verlässt, tritt sie ins Ungewisse und weiß nicht, was ihr der heutige Tag bringt und wie er für sie ausgehen wird.
Sie wird nach Hause gehen und mit der Arbeit anfangen müssen. Sie würde mit dem Durchforsten aufhören müssen. Dieses Drehbuch ist mittlerweile zu einer Dissertation mutiert, für die sie chaotisch, ununterbrochen dokumentiert und von der sie gewusst hat, dass sie sie nie zu Ende schreiben würde.
Als sie auf ihr Handy schaut, sieht sie eine E-Mail von Vlad mit zwei Links zu zwei Filmen, ohne irgendeinen Kommentar. Der tut wohl auch nur so, als würde er ihr helfen.
Letztendlich kommt ein junger Mann in Eile vorbei, in einem roten T-Shirt von Mega. Sie hält ihn sofort an und sagt ihm, dass sie die Weinflasche haben möchte. Er ist kleiner als sie und schaut sie unbeholfen an.
„Ich kann sie Ihnen von dort nicht herunterholen.“
„Können Sie nicht einen Kollegen rufen?“
Der junge Mann scheint überfordert.
„Wer hat sie denn da reingeräumt?“, beharrt Sonja.
Für heute wünscht sie sich nur noch ein normales Gespräch.
Der junge Mann schweigt weiter.
„Dann klettere ich halt hoch und hole sie, wenn Sie mir einen Hocker bringen.“
In seinem Gesicht zeichnet sich Grauen ab.
„Vielleicht eine Kiste? Sie haben doch sicherlich so etwas im Lager.“
Diese Idee quält ihn. Er scheint die Sorte Mensch zu sein, die befürchtet, hinterher von ihrem Chef dafür ausgepeitscht zu werden.
Wie soll er das bloß tun, ihr eine Kiste bringen?
„In Ordnung“, sagt er und verschwindet durch die schweren Kautschukstreifen ins Lager.
Schließlich vergeht sehr viel Zeit. Der junge Mann kommt nicht mehr heraus. Sie stellt sich vor, wie er sich irgendwo, vor Angst gelähmt, versteckt hat.
Dann öffnet sie die Links von Vlad. Mittlerweile ist er schon im Büro. Ob er wohl tatsächlich ein Büro hat?
Ihre Hand drückt auf Nachricht beantworten: „Du meintest, wir sprechen auch über den Vertrag?“
Hinterher hebt sie ihren Blick und befindet sich wieder in dem fremden Geschäft, verlassen von dem kleinen jungen Mann.
Irgendwann kommt dann ein großer Mann vorbei, sie entschuldigt sich, bittet ihn ganz nett um Hilfe und sagt lächelnd:
„Ich fürchte, dass ich nur diese haben möchte.“
Daraufhin stellt sich der Mann auf Zehenspitzen, streckt seine Hand (man kann die Anstrengung in seinem Gesicht sehen), packt die Flasche am Hals und reicht sie ihr. Sie führt die Hände zusammen und dankt ihm von Herzen.
An der Kasse herrscht Chaos. Eine Tafel weist darauf hin, dass man in der Gesamtschlange warten muss, und trotzdem drängeln sich die anderen vor. Der Wachmann steht da und unternimmt gar nichts.
Sonja schimpft mit ihm, dann mit der Kassiererin, welche die Kunden nicht darauf hinweist. Einer von denen, die sich vordrängeln, gibt einen beleidigenden Kommentar über ihre sexuellen Bedürfnisse ab.
Voller Wut verlässt Sonja den Laden mit der Flasche in der Hand. Sie fühlt sich sehr, sehr schwach. Unzulänglich. Und kann nirgendwo davonfliehen.
An der Ecke, an der sie Ioniță stehen gelassen hatte, ist dieser nicht mehr zu sehen. Sie kann nicht einschätzen, wie viel Zeit vergangen ist, bis sie mit der Flasche zurückgekehrt ist. Seine Adresse kennt sie auch nicht und sie kann auch niemanden fragen, wo ein gewisser Ioniță, sechzig plus, in gewisser Weise Alkoholiker, wohnt. Ehemaliger Stuntman. Das war alles, was sie über ihn wusste, als er kam, und auch jetzt weiß sie nicht mehr.
Daraufhin steckt sie die Weinflasche in den Rucksack. Ob sie sie ihm später geben kann?
Nein. Wo soll sie ihn denn später noch auffinden?
...
„Lass uns ein wenig über deine Zorro-Einstellung reden“, sagt ihr Ioana, als sie ihr erzählt, wie gedemütigt sie sich fühlte, nachdem sie den Laden verlassen hatte.
Sonja hat den Eindruck, sie grinse und mache sich über sie lustig. Ioana kann diesen Gedanken sofort lesen.
„Du hast Zorro zuerst erwähnt. Das Wort habe ich von dir…“
„Stört es dich nicht, wenn sich andere vordrängeln?“, fragt Sonja.
„Nicht so, dass ich anfange, davon zu zittern. Warum verspürst du das Bedürfnis, an der Schlange im Supermarkt Ordnung zu schaffen?“
„Du meinst also, es sei okay, so ein Verhalten hinzunehmen?“
„Worüber ärgerst du dich sonst noch so?“
Am liebsten würde sie vom Sofa aufstehen und einfach gehen, aber sie ist höflich. Also schweigt sie. Und Ioana folgert daraus, dass sie sehr nachdenklich ist.
„Ich möchte verstehen, was dich an dem Tag wirklich genervt hat.“
„Die Tatsache, dass sich Menschen vorgedrängelt haben?“
„Wer ist daran schuld?“
„Keine Ahnung… Rumänien?“
„Aha...”, gibt Ioana von sich, so als ob sie einen wichtigen Punkt bemerkt hätte.
Sie notiert auf ihrem Schreibblock großflächig: Rumänien.
Sonja ist davon überzeugt, dass sie Gott in einem anderen Land weniger verabscheuen würde. An anderen, saubereren Orten wird er bestimmt für diskretere Zwecke gebraucht werden und die Menschen werden ihn weniger dafür benutzen, um ihre eigene Hilfslosigkeit zu rechtfertigen. Da könnte sie ihm näherkommen. Der rumänische Gott gefällt ihr nicht.
Aber nein, verdammt, es geht hier nicht um Gott. Natürlich geht es nicht um Gott.
Sie bezahlt Ioana wohl nicht dafür. Wie ist sie überhaupt auf Gott gekommen?
„Die Sache ist, dass mir nichts gelingt“, sagt sie. „Und ich brauche das, dass mir etwas gelingt, verstehst du? In etwas gut zu sein, das brauche ich.“
...
[...]
An Ratschläge fürs Leben von ihrer Mutter kann sie sich nicht erinnern, ausgenommen an einen, der sie beide zum Lachen brachte, als ihre Mutter ihn von sich gab.
„Tu so, als hättest du nichts verstanden.“
Es ging um einen Mann, in den Anfängen, damals, als nie noch über Männer sprachen. Sonja war Studentin und er war ein wesentlich älterer Mann, nicht gerade frei, der ihre Existenz verkompliziert hätte. Bis sie überhaupt dazu gekommen war, so zu tun, als hätte sie nichts verstanden, verlor der Mann entweder das Interesse oder aber er legte gesunden Menschenverstand zu Tage und zog sich zurück, ohne auf eine Beziehung zu bestehen. Sonja entschied sich dann dafür, die zweite Variante für wahr zu halten, jedoch erst viel später, als ihr bewusst wurde, dass sie ihre Vergangenheit so erzählen kann, wie sie es möchte.
„Ich wurde geliebt und beschützt“, sagte sie zu sich selbst. „Ich war hübsch und werde es wieder sein.“
„Tu so, als hättest du nichts verstanden“, wird allerdings zu einem immer interessanteren und tatsächlich nützlichen Ratschlag.
„Du weißt, dass dein Vater Securist war“, sagt ihr die Mutter in dem heutigen Gespräch mit wenigen Rückmeldungen, während sie im Wohnzimmer auf dem Sofa liegen, vor dem Fernseher, wo im leisen Ton Kochsendungen laufen.
Sonja dreht sich zu ihr und schaut sie lange an.
„Mein Schwiegervater… Na ja, er war auch für andere der Schwiegervater, ich weiß nicht, ob ich ihn noch so nennen sollte. Dein Großvater, quasi. Vielleicht kann er dir bei deinem Buch helfen. Falls du hingehen möchtest.“
„Es geht um ein Drehbuch.“
„Egal.“
„Wie meinst du das, ich soll hingehen?“
Über diese Möglichkeit hatte sie nie nachgedacht.
„Ich kann dich mit ihm in Kontakt bringen. Du könntest bei deiner Patentante wohnen. Sie würde sich freuen, von dir zu hören. Oder sogar bei ihm. Ich glaube, er lebt allein.“
„Hast du denn noch Kontakt zu meiner Patentante?“
Die Mutter nickt. Allerdings traut sie sich nicht, das Wort auszusprechen. Sie ist mit allen in Kontakt geblieben und hat über alle Bescheid gewusst.
„Wie konntest du mich aus dieser Geschichte ausschließen?“, fragt Sonja.
„Ich dachte, du willst nichts mehr von ihm wissen…“
„Tu so, als hättest du nichts verstanden“, ruft ihr ihr Engel aus der Höhle zu.
Dann sagt er noch:
„Geh hin.“
Auch jetzt hört sie ihn immer noch so klar, dass sie den Eindruck hat, er habe für einen Augenblick das Buch beiseitegelegt und den Kopf zu ihr gedreht.
Übersetzt von Manuela Klenke