Wie viele Geheimnisse verschwieg jede dieser Frauen? Die mit den Einkaufstaschen dort. Die Verkäuferin da, mit der Pausenzigarette vor dem Schaufenster, die ihre Silhouette überprüfte, den Bauch einzog. Wie viele Geheimnisse, wie viele Liebhaber, wie viele Nicht-Liebhaber, wie viele ungeweinte Tränen? Wie viele unausgesprochene, unverwirklichte Ideen? Wie viele Menschen nahmen diesen unverwirklichten Raum stattdessen ein, um die sich die Frauen sorgten, Kinder, Mütter, Männer, Geschwister? Was blieben am Ende des Tages für eigene Gedanken für sie selbst übrig, für die Radlerin, die ihren Blick hinter der Sonnenbrille versteckte, die Busfahrerin, die auf das Rotlicht sah, welche Wünsche hatte sich die Dame in Gelb und sichtlich über achtzig erfüllt und welche zugunsten von jemandem, der es wert war – oder auch nicht –, nicht erfüllt? Was brauchte es, um diese Frauen umzustürzen, welche Ruptur, durch die ihre angehäuften Tage davonfießen würden? Was brauchte es, um eine Frau überhaupt umzustürzen? Reichte ein Mann?
Ein Lied von jenseits einer verschlossenen Tür?
Ein Stein, der verloren ging?
Claire fühlte sich den fremden Frauen nah, so nah, hier waren sie, gleichzeitig auf der Welt, mit all ihren verborgenen Gedanken und ungelebten Taten hinter ihrem geordneten Tun, und das Taxi schnitt durch die Zeit.
Die Aussicht auf den Sommer, acht Wochen in der Bretagne, bedrückte Claire. Sie wäre gern in Paris geblieben – jeden Tag aufstehen, wie immer deutlich früher als Gilles und Nicolas, in die Science Po gehen, das tun, was sie immer tat, arbeiten, dozieren, belehren, analysieren, Tutorinstunden abhalten, danach im Schwimmbad tausend Meter ziehen.
Schon bedauerte sie es, sich im Langlois aus der Balance gebracht zu haben, aber es war nötig gewesen, so nötig, um endlich wieder zu atmen.
Als das Taxi in ihre Straße einbog, die Rue Pierre Nicole, wenige Querstraßen vom Ufer der Seine und Notre-Dame entfernt, mit Häuserzeilen aus den typischen, fünfstöckigen hausmannschen Gebäuden, sammelte Claire sich. So, wie man sich sammelt nach dem Kino, wenn der Kokon der fremden Welt zurückweicht ins Dunkle des Saals und das Licht der Wirklichkeit einen blendet.
Als sie die Wohnungstür im fünften Stock aufschloss, wurde sie von den Klängen von Mr Bojangles umfangen, von einem Duft nach Rosmarin, frisch aufgeschnittener Honigmelone, leicht anfrittierten Auberginen, darunter etwas Undefnierbares, Köstliches, Simmerndes. Sie legte ihre rote Tasche auf den halbrunden Tisch, sah kurz in den ovalen Spiegel. Sie sah aus wie am Morgen, als sie um halb sieben gegangen war und Nico und Gilles noch schliefen. Claire hatte ihnen in einer Silberkanne Kaffee hingestellt, wie immer.
»Sammy Davis Junior, 1984, Berlin«, sagte Gilles statt einer Begrüßung, füllte ein Weinglas mit dem honigweißen Apremont aus Savoyen und reichte es Claire über den Gasherd, der in der Mitte der Küche stand. Auf dem Monitor des aufgeklappten Laptops auf dem breiten Fensterbrett, direkt vor den geöffneten Flügeln, tanzte Sammy Davis in weißem Hemd, schwarzer Hose und Hut über eine Berliner Bühne. Gilles liebte diese Version, das wusste Claire. Und so, wie ihr Mann sie jetzt ansah, entspannt, unternehmungslustig, in seinem blauen, leicht verknitterten Leinenhemd über einer verwaschenen Jeans, strömte ein Gefühl aus der Mitte ihres Körpers, ihm entgegen, es war warm und tat weh.
Sie nahm das Glas, roch kurz am Wein, stellte es neben sich.
»Ich dachte mir, zur Feier des Tages …« Sie hob die Papiertasche mit den zwei Flaschen gekühltem Ruinart Champagner auf den großen Naturholzesstisch, die Flaschen hatte sie noch in dem Wein- und Whiskygeschäft neben dem Marché des Enfants Rouges gekauft, während das Taxi gewartet und sie danach direkt nach Hause gefahren hatte. Sie legte den Strauß weißer Rosen daneben.
»Champagner und frische Blumen? Sie wird einen völlig falschen Eindruck von uns bekommen«, sagte Gilles.
Dann pfff er mit Sammy das Finale der Liveaufnahme, wendete sich zum Kühlschrank, nahm vier dunkelrote Fleischstücke aus einer gelben Porzellanschale und legte sie liebevoll vor sich auf das Arbeitsbrett. Er hatte das Brett in der Dordogne von einem Tischler mit nur noch sieben Fingern gekauft.
Claire setzte sich an den langen Tisch, der sie schon ewig begleitete. Gilles hatte immer einen großen Tisch haben wollen. Groß genug, um daran zu essen, mit Freunden, Kindern (er wollte immer drei, Claire keines, aber … nun ja, wer konnte wem schon den schweren wiegenden Verzicht vorwerfen?), um daran zu arbeiten, zu streiten, zu spielen, zu reden. »Ein Lebenstisch, den will ich, Claire, ein Herz, wir brauchen ein großes, kräftiges Herz aus Holz und Leben.«
Als sie sich kurz nach Nicolas’ Geburt die Wohnung in der Rue Pierre Nicole gekauft hatten – sie bezahlten sie immer noch ab, von Claires regelmäßigem Professorinnengehalt; freischaffende Komponisten wie Gilles galten bei Banken bereits vor zwanzig Jahren als Kredit-Risikofaktor –, hatte Gilles die Wand zwischen Salon und Küche durchbrechen lassen. Er hatte die Küche um den Tisch, den er in einer ehemaligen Klosterschule für Mädchen in der Picardie gefunden hatte, herumgebaut. Und sich ausbedungen, dieses Herzstück der Wohnung so einzurichten, wie er wollte – das war, neben seinem schallisolierten, klimatisierten Musikstudio, sein Terroir.
Ungerahmte Gemälde. Bretonische Treibgut-Regale, gefüllt mit Gewürzen, ein getrockneter Schalottenzopf, Zimtstangen und Muskat in angestoßenen Kristallgläsern. Louis Quinze-Stühle, mit bunten Leinenkissen aus dem Luberon dekoriert. Der cognacbraune, abgewetzte Sessel am Fenster aus dem Nachlass einer britischen Teestube. Schwarz-Weiß Fotografen vergangener Pariser Märkte. Ein riesiges Büfett aus der Normandie, gefüllt mit Steinguttellern, marokkanischen Teegläsern, Dim-Sum-Körbchen, die Gilles dem vietnamesischen Koch aus den Galeries Lafayette abcharmiert hatte, einem halben Dutzend Teekannen, hundert Jahre alten Schöpfkellen, Kupfertöpfen, Muschelsieben, dem Lexikon der französischen Käsesorten, einem Laguiole-Weinöffner aus Domme, einem Körbchen Salzmandeln, der aufgeschlagenen Paris Match mit Macron und seiner Brigitte auf dem Titel (Frankreichs Medien waren sehr damit beschäftigt, den Altersunterschied von vierundzwanzig Jahren zu thematisieren; Claire hatte die Interviewanfrage eines TV-Senders ausgeschlagen, der sie als bekannteste Pariser Verhaltensbiologin gegen üppiges Honorar zu der ungewöhnlichen Paarung befragen wollte, hoffend, dass Claire eine süffge Ödipus-Anekdote bringen würde. Woraufhin sie dankend verzichtet hatte. Es war absurd, dass einer Frau vorgeworfen wurde zu altern und trotzdem, mon Dieu!, ein Liebesleben zu haben), einem milchigen Porträt von Anaïs Nin in einem Goldrahmen, einer Batterie Aschenbecher von Ricard, Gitanes, Le Monde (aus der Zeit, als Gilles und Claire noch geraucht hatten), einer Mundharmonika (F-Dur), einer weiteren Mundharmonika (A-Dur).
»Faux Filet?«, fragte Claire.
Sie saß an dem Platz, der von Anfang an ihrer gewesen war: am Kopfende des Tisches, um von dort aus Gilles zuzusehen, wie er kochte, sang oder Melodien summte, die es nur gab, weil sie aus seinem Wesen kamen. Und die manchmal einige Jahre später in großen Kinosälen aus den kraftvollen Lautsprechern flossen. Zu selten; es gab keine existenzielle Sicherheit in seinem Leben, Claire war das finanzielle Backup der Familie. Sie probierte einen Schluck Wein.
»Oui, Madame. Und meine Originalratatouille, nach einem streng gehüteten Rezept meiner provenzalischen Großmutter.«
»Ach? Diese Großmutter ist mir neu.«
»Sie war die heimliche Geliebte meines Großvaters. Sie hatten eine Art Ratatouille-Verhältnis.«
»Das wäre doch ein schönes Gesprächsthema für heute Abend. Heimliche Geliebte und ihre Lieblingsrezepte.«
Gilles warf Claire einen schnellen Blick zu. Unmerkliches Spiel seiner Wangenmuskeln.
»Unbedingt«, erwiderte er leichthin. »Nico wird uns dann allerdings fragen, ob wir ihn zur Adoption freigeben könnten.«
Nein, wollte Claire korrigieren, nein, so meinte ich es nicht! Wirklich. Nicht so. Claire hatte Gilles niemals seine Geliebten vorgeworfen. Nicht mal in Andeutungen, um – nun ja, um anzudeuten, dass Claire von zumindest vieren wusste, auch wenn ihr Mann nie darüber geredet hatte und niemals, wirklich niemals indiskret gewesen war. Claire überdeckte das Schweigen, so als hätte sie nicht verstanden, dass er sie missverstanden hatte.
»Und das Fleisch? Von Desnoyer?«
»Ich werde mich hüten, bei diesen Apothekerpreisen. Solange der Vertrag mit Gaumont für die Miniserie mit Omar Sy nicht unterschrieben ist, gibt’s Hausmannskost. Ich habe einen begabten Schlachter im Marais entdeckt. Winziger Laden in der Nähe der Galeries Lafayette.« Ihr Mann konzentrierte sich auf das Fleisch, massierte es.
Sie nahm diesmal einen großen Schluck vom Wein. Die Galeries Lafayette waren in der Nähe des Langlois. Die Galeries Lafayette waren aber auch in der Nähe der TV-Studios von Gaumont. Im Prinzip war halb Paris in der Nähe der Galeries Lafayette. Gilles rührte in einer boule, einer weißen Porzellanschale, aus der er sonst seinen morgendlichen Kaffee mit heißer Milch trank, nun süße Sojasoße, Teriyaki, gehackten Knoblauch, Sesam, hausgemachten Ketchup, Honig und einen Spritzer Framboise-Essig aus der Provence an. Dann griff er nach dem Laphroaig-Whisky, den Claire von ihrer letzten Dienstreise aus Oxford mitgebracht hatte (eine Gastdozentur für sechs Wochen; Die Politik der Emotionen: Medien, Manipulation und Meinungsherrschaft; mein Gott, manchmal war sie es so leid), und warf ihr einen fragenden Blick zu.
»Nur in die Marinade oder ins Glas? Du hast ab heute acht Wochen frei. Einen Daumen?«
Er streckte den Daumen aus, erst quer, dann hoch. Ein Zentimeter Whisky oder lieber doch gleich fünf?
Ihr altes Spiel, seit ihrem ersten gemeinsamen Glas. Der Bartender hinter der ungefähr hundert Jahre alten bretonischen Bar Le Mole in Lampaul-Plouarzel hatte diese Geste gezeigt, einen Daumenbreit Whisky oder vorsichtshalber einen Daumenhoch?
Zweiundzwanzig Jahre dieselbe Geste.
»Später. Und ich werde ein paar Examensarbeiten und Bücher mit nach Trévignon nehmen. Ab Herbst haben wir ein neues Forschungsprojekt.«
»Tja. Wie du willst.« Gilles’ Schulterzucken war Resignation. Nicht wegen des Whiskys. Wegen ihr.
Claire war klar, dass Gilles aus dieser winzigen Enttäuschung heraus nicht fragte, was für ein Forschungsprojekt es war. Sie könnte den Whisky annehmen, er würde im Gegenzug fragen. Geste gegen Geste.
Kleinigkeiten. Es waren immer nur Kleinigkeiten.
Gilles goss einen großzügigen Schluck des rauchigen, schottischen Islay-Whiskys in die Marinade.
Die Playlist des Laptops spielte René Aubry. Salento. Gilles rührte im selben ruhigen Takt der Gitarren die Marinade an.