Zusätzlich zu den Frauenportraits und ihren persönlichen Geschichten erschließt sich auch das Bild von Rumänien während des Krieges, des Kommunismus und des Übergangszeitraums. Ein Spiegel der Epochen, die prägnante Spuren bei denjenigen hinterließen, die sie durchlebten.
„In der ersten Schreibphase dieses Buches ließ ich mich von einem polyfonischen Frauenchor leiten. Die Charaktere erzählen von prägenden Ereignissen in ihren Leben. In jedem einzelnen Fall wird eine emotionale Schwelle auf brutale Weise, verbunden mit viel Leid, überwunden. Ich befand mich in Paris in der U-Bahn, holte mein Handy aus der Jackentasche, schaltete es an, dann waren die ersten Sätze da. Die Szenen sowie auch die Charaktere stammen aus fiktiven, gelebten, ausgedachten oder gehörten Begebenheiten. Als ich den Punkt am Ende setzte, verstand ich, dass ich ein Buch über Frauen, über die Frau im Allgemeinen, den Menschen, die Kindheit und über den schmerzhaften Prozess des Erwachsenwerdens geschrieben hatte.“ – Cristina VREMEŞ
CRISTINA VREMEȘ ((geb. 1986) studierte Philosophie und Kunstgeschichte an der University College London und hat einen Masterabschluss in Philosophie an der University of Cambridge, Newnham College. Sie war Kulturvermittlerin beim Fondation Louis Vuitton/Context Travel, Paris, wo sie die Besucher der permanenten Kollektionen oder zeitweiligen Ausstellungen im Musée du Louvre, Musée d'Orsay oder Château de Versailles sprachlich begleitete. Außerdem war sie Kuratorin der Galerie Jeu de Paume in Paris. Sie nahm an mehreren Creative-Writing-Workshops teil, wie zum Beispiel The Other Writers Group, Shakespeare & Co., Paris und The Wednesday Group, koordiniert von Shannon Cain, Paris. Die Trilogie des wandernden Geschlechts ist ihr erstes Buch..
DIE TRILOGIE DES WANDERNDEN GESCHLECHTS
Die Schichten begannen um sechs Uhr morgens. Um vier Uhr, als es noch dunkel war und die Straße noch schlief, wachte ich auf. Aus dem Schlafzimmer lief ich barfuß über den kalten Boden und starrte das zerzauste Gesicht und die angeschwollenen Augen im Badezimmerspiegel an. Das Quellwasser war so eiskalt, dass ich das Gefühl hatte, mein Zahnfleisch würde sich im Mund auflösen. Das petrolgraue Licht der ausgedünnten Nacht strahlte durch das kleine quadratische Fenster bei dem Boiler hindurch und beleuchtete die Keramikoberfläche des Waschbeckens, sodass eine mystische Atmosphäre, wie kurz vor einem eintreffenden Mord, entstand. In wenigen Stunden würde der Tisch im Flur von Pfefferminztee und Toastbrot belebt sein. Eine gnädige und menschliche Phase im Tagesablauf, die ich allerdings wie ein Vertriebener ausließ. Um Bukarest bis zur entgegengesetzten Seite um Punkt fünf zu durchqueren, wartete ich am grauen Bahnsteig. Die Schärfe der kalten Luft wurde im Winter von den hohen Wohnhäusern im Zentrum nicht eingefangen, sondern schlich sich stechend an den schmalen Fassaden der Dächer, den ausgebreiteten Wegen am Stadtrand und den Zeitungsbuden, an denen man einzelne Zigaretten kaufen konnte, vorbei. In dieser gruseligen Finsternis wartete ich alleine auf die S-Bahn und wünschte Geta, die in einem mikroskopisch-winzigen gelben Kiosk, wo sie sich nicht einmal von rechts nach links drehen konnte, ohne die Hintertür aufmachen zu müssen, Tickets verkaufte, einen „Guten Morgen!“. Zum Glück saß sie auf einem Sessel, so groß wie der Kiosk selbst, den sie von zu Hause mitgebracht hatte. Auf einem RATP
[1]-Stuhl hätten ihre Wirbel ihren ganzen Rücken durchbohrt und ihren Ischias ruiniert. Auf dem Tisch, wo sie die Fahrkarten zählte, lagen zerknitterte Reste von Klarsichtfolie, in die sie eine Nacht zuvor ihre Butterbrote eingewickelt hatte. Geta wusste alles über mich: wann ein schwerer Arbeitstag folgte, ob ich einen Abgabetermin hatte oder ob sich bei mir aufgrund des Luftzuges eine Mittelohrentzündung anbahnte. Hinter dem Schalter hörte ich, dass sie einen neuen Enkel bekommen hatte, wie sie zu Weihnachten ein Schwein geschlachtet hatten, wie wütend sie war, weil sie Bibică gekannt hatte, seitdem er ein Spanferkel gewesen war, und nun war er zu Kohlrouladen und Kochwurst vearbeitet worden, oder die Geschichte von der Kleinen, die einen Backenzahn verloren hatte. Mein Leben schritt gemeinsam mit ihren Geschichten voran. Während ich in die U-Bahn einstieg, stellte ich sie mir alleine vor, in dem gelben Häuschen, an dessen Ecken die Farbe absplitterte.
Die Fassaden der asymmetrischen, diskontinuierlichen Häuser, wie die Verse eines Schlagers aneinandergereiht, mit dessen Tönen ich in den betonierten Bauch Bukarests eindrang, kannte ich auswendig. Ich kannte jede Kurve der S-Bahn, jede Gleisverzweigung, an der der Fahrer anhielt, um an dem vereisten Hebel zu ziehen, um die Weichen in Richtung Chibrit einzustellen. Von drinnen, aus dieser feuchten Wärme, beobachteten ihn die Fahrgäste, dicht aneinandergepresst, eine Anhäufung von Stirnbändern und Mützen. Ich schaute dem schlängelnden Körper der S-Bahn, die in den Tunnel glitt, da, wo das Licht einer Glühbirne flackerte und die verschlafenen Gesichter erhellte, hinterher. Wir verließen den zementierten Magen der Stadt und kamen an der Oberfläche, im hoch betonierten Bukarest, das einer sehr strengen architektonischen Ordnung unterlag, an. Der Stadtanblick brachte mich in Verlegenheit. Die Hochhäuser wiesen den Weg ins Zentrum, da, wo ein anderes Leben geführt wurde, ein anderer Rhythmus mit Büros und Deux-Pièces-Kostümen, Pumps, Aktenkoffern und zu unterschreibenden Papieren. So hatte ich das von meiner Kollegin Florentina, deren Mutter Buchhalterin ist, gehört. Ich durchforstete die Stadt und stellte mir hinter den biederen, grauen Wänden ihr Innerstes vor, da, wo weiche, gelbe Lichter glommen. Draußen herrschte Finsternis, eine von dem erfrorenen Blau der Morgendämmerung gebrochene Finsternis. Ich stellte mir die Frauen vor, im Morgenmantel, um die Taille mit einem Doppelknoten festgebunden, eingekuschelt bis zum Nacken im flauschigen, fusselnden Material, wie sie den Herd anmachten, den Knopf drückten, der auch hinten noch klackert, nach rechts drehten, einmal, zweimal, dreimal, bis das kleine Kochfeld anging und der Tag demzufolge begann, wie das abgetrocknete Mokkakännchen vom Abtropfgitter erhoben wurde, mit dem Unterteil unter den trüben Wasserstrahl gestellt wurde, vor dem man wartete, damit er klarer wurde, wie sie auf die Oberfläche des Wassers, das kurz davor war, überzukochen, schauten und bei den ersten zitternden Wellen, bei den ersten Wirbeln und feinen Bläschen, die von unten heraufkamen, das Feuer herunterdrehten, den Löffel mit langem Stiel in den Kaffee steckten und vorsichtig umrührten, damit es nicht überlief und der Kaffee nicht über die polierte Herdoberfläche verschüttet wurde.
Ich stellte mir die Morgen dieser Frauen aus den Hochhäusern vor, mit einer unersättlichen Lust, so zu sein wie sie, meine eigene Küche und die Freiheit zu haben, meine Tage nach meinen eigenen Wünschen und Vorstellungen zu planen, aus dem Flur heraus schnell an der Haltestelle vor der Haustür zu sein, ohne eine nicht endende Gegend mit gepflasterten Straßen und Hunden, die einem mit ihrem Bellen den letzten Nerv raubten, zu passieren. Ich stellte mir vor, dass die Nachbarn in einem Hochhaus diskreter wären. Diese Frauen trugen täglich Pumps. Von der Haltestelle Chibrit hatten diejenigen, die mit der S-Bahn fuhren, weichere, toupierte Haare, gelassenere Bewegungen, eine distanzierte Haltung und eine piepsige Stimme. In ihren Augen konnte ich Scham erkennen eine Art, die ich gerne nachmachen wollte, aber nicht wusste, wie. Um diese Art zu verstehen und sie mir anzueignen, hätte ich in einem Hochhaus wohnen müssen, weit weg von der Vogelkacke auf dem Hof.
Das Geschimpfe, die obsessive Kontrolle und die Krankheiten meiner Mutter wurden von der aseptischen Stadtlandschaft übertönt. Obwohl ich es schwer hatte und meine Finger bläulich waren, als ich am Ende der Fahrt mit der Straßenbahn einen Finger nach dem anderen aus den gefilzten Handschuhen herauszog – jeder knackte erfroren – wuchs in mir ein undefinierbarer Enthusiasmus.
Um die Existenz in vollem Umfang zu erfahren, muss man sein eigenes Geld haben und heiraten, so dachte ich.
Nach der Arbeit in Tricodava und der Freude über das am Monatsende in einem Briefumschlag eingereichte Geld, in einem schäbigen Laden, ohne Fenster, wo die Buchhalterin auf der Schreibmaschine tippte, durch deren Zähne die Lohnabrechnung mit Tintenflecken ausgespuckt wurde, entschied ich, dass ich heiraten müsste, um endlich das mütterliche Geglucke loszuwerden. Aufs Heiraten kam ich durch ein Ausschlussverfahren. Ich hatte in dem Sinne keine wirkliche Wahl. Ohne Ehemann würde ich kein eigenes Haus haben, und wenn ich kein eigenes Haus hätte, wäre ich nicht so frei, wie ich es mir wünschte. Also musste ich heiraten. Verheiratet zu sein, heißt, ins Bett zu gehen, so spät wie man will, „Frau XY“ genannt zu werden, also einen anderen Namen anzunehmen, der zeigen soll, dass man nicht mehr nur Fräulein ist, und Bleche und Abspülwasser in der Spüle lassen zu können, ohne dass man dafür von jemandem ausgeschimpft wird.
Das Heiraten war ein zweiter Schritt in der Loslösung von meiner Mutter, eine zusätzliche Jugendphase mit viel Spaß und Frieden. Ich glaubte an die Kohärenz meiner Denkweise, bis zu dem Tag, an dem es tatsächlich passierte, der Tag, an dem ich heiratete, nachdem ich um fünf Uhr morgens in der verschwitzen Bettwäsche aus einem Albtraum aufwachte und mich in meinem surrealen Durcheinander an meine Großmutter Lisveta erinnerte. Im Traum konnte man durch die dürren Stellen ihres Körpers, da, wo ihre Muskeln verschwunden waren, die Venen meiner Großmutter sehen. Sie war groß, wie die Bäume, hinter denen sie sich versteckte, und sie streckte ihren rechten Arm aus, in dem Versuch, mich zu fangen, sie kniff mich am Knöchel, dann erschien sie wieder vor mir, saß da mit übereinander gekreuzten Beinen und hielt an ihrer Brust einen lebendigen blinden Hasen, in einen durchsichtigen Sack gesteckt. Durch die vergammelte Plastikfolie streichelte sie seine Ohren, während dieser sein langes breites Zahnfleisch enthüllte. Dazwischen konnte man Fasern von zerquetschten Kirschen sehen. In dem Kirschbaumwald gab es einen Forstweg, an dessen Ende man eine Lichtung sehen konnte. Dahin versuchte ich zu laufen, aber der Weg brach jedes Mal zusammen und brachte mich zu der Erscheinung, die anfangs das Gesicht meiner Großmutter Lisveta trug. Ich fragte sie, warum sie aus der Erde zurückgekehrt war, jetzt, wo sie Jahre zuvor hinabstiegen war, von Altersschwäche und Boshaftigkeit besiegt – diese karge und überstürzte Person konnte ich nie leiden – aber sie antwortete mir nicht. Am Ende des Traumes war ich selbst die Erscheinung aus dem Kirschbaumwald, und in dem Moment wachte ich in der verschwitzen Bettwäsche auf, dann übergab ich mich mehrmals in dem dunklen Bad, in dem das Licht nicht funktionierte. Ich war nur einen Schritt davon entfernt, mein Bewusstsein zu verlieren, ich war dehydriert, wusste nicht, ob ich weiter brechen oder ohnmächtig werden würde, oder sogar beides gleichzeitig. Nach einer Stunde waren in mir nur noch eine grüne Spur meiner ausgewürgten Galle und das Bedürfnis nach völliger Bettruhe übrig. In der Finsternis des Bads, unter dem nicht erwärmten Wasser des Boilers, aus der Grundwasserleitung, das in Strahlen durch das verrostete Loch des Rohrs herausfloss und sich über meinen Kopf herunter bis hin zu dem Abfluss, aus dem Spinnen mit feinen Gelenken hervorkamen, schlängelte, während dieser kalten Armeedusche, um sechs Uhr morgens am Hochzeitsmorgen, verstand ich meinen Denkfehler. Der von schattenhaften Erscheinungen besiedelte, weite Horizont, in dem das Heiraten ein Vergnügungspark schien, diese Halluzination, hatte nun eine sehr klare Gestalt angenommen, gegen die ich nun geprallt war.
In einigen Stunden würde ich einen Mann namens Titus geheiratet haben. Er war groß und hatte auf den Armen und der Brust drahtige Haare, in die ich meine Finger grub, auf dessen Schulter ich im Kino döste, der Einzige aus dem Viertel mit einer frisch lackierten Lada, mit der er mir vom Krankenhaushof, in dem meine von Tuberkulose geheilten Lungen untersucht wurden, folgte. Eine Weile war er im ersten Gang mit einigen Schritten Entfernung hinter mir hergefahren, bis ich aufgab und mir ansah, wie seine schwarzen Lederschuhe das Lenkrad drehten, den Duft seines Rasierwassers mit dem des Wunderbaums vermischt aus dem Auto heraus roch und mir sagte „Wow, was für ein Kerl!“, um ihm dann sechs Wochen später vorzuschlagen, mich zu heiraten, was er akzeptierte, obwohl an dem Nachmittag in seinem Gesicht eine weiche Falte, die die breite, gesonnte Stirn zierte, auftauchte. Am selben Tag fing er an, mich punktuell zu befragen, um welche Uhrzeit meine Schichten in Tricodava begannen und zu Ende waren, nur einige Minuten, nachdem er mich vor dem Eingangstor verbschiedet hatte, mich zu Hause anzurufen, um mit mir den gleichen Fragenkatalog durchzugehen, darüber, wie ich meinen Tag verbracht hatte, bis ich ihn schlafend bat, aufzulegen, weil ich am nächsten Morgen um vier Uhr aufstehen musste. Ich dachte, das wäre Liebe: Man lässt den anderen nicht einschlafen, man nistet sich in seiner Existenz ein, so als ob es die eigene wäre, und es gibt keine Abgrenzung zwischen deinem und seinem Leben. Er vergaß mich keinen einzigen Augenblick, besessen davon, der Eigentümer jeder Sekunde meines Lebens zu werden, obwohl ich ihn nach stundenlanger routinierter Arbeit mit aufgespulten Garnrollen und unzähligen Stoffen, in denen sich seine haarigen Arme und seine Gesäßmuskeln auflösten, vergessen konnte.
Das Zentrum von Bukarest bereitete Titus Kummer. Er bevorzugte die Gemütlichkeit des Stadtviertels Bucureştii Noi, die Freude des Grillens am Straßenrand, die in der Hitze brutzelnden Mici
[2] und das Gequatsche in den Garagen der Gegend Chitilia. Ich dagegen wollte ins Kino Patria gehen und in die Konditorei des Hotels București, da, wo er die Verkäuferin mit piepsiger Stimme grimmig anschaute, als sie ihm eine überteuerte Savarine
[3] servierte. Von dem Geld, das er für diese sumpfige Sahne ausgab, hätte er sich drei Bier kaufen können. Ich wollte heiraten und Titus war eine gute Partie, also glaubte ich ihm, als er mir sagte, dass die Savarinen im Zentrum eine Extravaganz versnobter Frauen, die Fürze im Kopf haben, sind, und dass es viel besser wäre, wenn wir den selbstgemachten Wein seines Vaters genießen würden. Damals tat ich so, als wünschte ich mir den gleichen Lebensstil wie er. Ich log ihn und mich selbst für einen guten Zweck an, nämlich den, zu heiraten, so wie ich es mir vorgenommen hatte. Die Savarinen würden mich nicht aufhalten. Liebe bedeutet Kompromiss, so sagte ich mir, bis um sechs Uhr morgens am Tag der Hochzeit, als ich Grünes über den Teppich in dem dunklen Bad erbrach und dabei verstand, dass mir dieser Mann viel zu wenig gefiel und ich in Kürze für ewig seine Frau sein würde.
[1] Rumänischer öffentlicher Nahverkehr
[2] Rumänische Cevapcici
[3] Hoher, runder Napfkuchen aus süßem Hefeteig, der nach dem Backen mit einer Mischung aus Läuterzucker und Rum getränkt wird