Aus Erfahrung weiß ich, dass ich eine Sache erst dann verstehe, wenn ich darüber schreibe. Also habe ich mich an den Schreibtisch gesetzt und angefangen: Wie hat Literatur mein Leben geändert?
16. März
Aus Erfahrung weiß ich, dass ich eine Sache erst dann verstehe, wenn ich darüber schreibe. Also habe ich mich an den Schreibtisch gesetzt und angefangen: Wie hat Literatur mein Leben verändert?
17. März
Bevor der Wecker geklingelt hat, bin ich topfit aufgewacht und habe das, was ich den Kindern aus Gârcini sagen möchte, umgeschrieben. Ohne zu stochern, habe ich es auf den Punkt gebracht – ohne die Einstellung, die ich anfangs, als ich dem Projekt zugesagt hatte, unbewusst hegte, nach dem Motto „
Ich gehe hin, sage meinen Text und bekomme es irgendwie hin.“
25. März
Am Morgen habe ich noch einmal einen Blick auf das, was ich letztes Wochenende aufgeschrieben hatte, geworfen. Dann habe ich auf einem Blatt Papier die Hauptpunkte aufgeschrieben und sie, während ich durch die Küche lief, wiederholt, so als ob diese Worte gar nicht von mir stammten.
Der Grund, warum ich in eine benachteiligte Gegend geschickt worden bin, ist, den Kindern eine Lebensgeschichte vorzustellen, die ihnen super bekannt vorkommt. Zusätzlich nehme ich mir für den zweiten Teil des Treffens noch vier große, breite Lernziele vor. Wenn sie so nett sind und mir zuhören, nenne ich hierfür passende Beispiele.
1. Mit Literatur kann man sich immer beschäftigen, sogar heute, jetzt, genauso wie gestern oder vor hundert Jahren, genauso wie man es morgen tun wird und vielleicht auch noch in hundert Jahren;
2. Mit Literatur kann man sich überall beschäftigen, sogar hier, in diesem Saal in Săcele, Kreis Braşov, genauso wie man es in Bukarest oder New York tut, ganz egal, ob man sich in einem Dorf in den Westkarpaten, auf einer Bank oder in einer Wohnung in Tokio oder Alexandria befindet;
3. Jeder kann sich mit Literatur beschäftigen, davon abgesehen, ob man einen Uniabschluss hat oder nicht, ob man jung oder alt ist, weiblich oder männlich, reich oder arm;
4. Jeder kann Literatur erschaffen, durch eine erwiederte oder unerwiederte Liebe, durch Streit mit den Eltern, einen Streit in der Schule oder zu Hause, mit einer Reise, einer Erkältung, einem Taschentuch voller Rotze.
29. März
Obwohl ich jeden Tag geübt habe, bin ich früh am Morgen mit Lampenfieber aufgewacht.
Zum Bahnhof bin ich zu Fuß gegangen. Dort habe ich das von Avis - unser Projektpartner - zur Verfügung gestellte Auto abgeholt. Bis Săcele hatte ich keine Zeit mehr, mir Sorgen zu machen, denn ich musste mich an das Gaspedal und die äußerst sensible Bremse des Golfs gewöhnen.
Vor dem Eingangstor bin ich einige Minuten stehen geblieben und habe gezögert, Mihaela, die Kontaktlehrerin der Schule für Begabtenförderung, die das Projekt geplant hatte, anzurufen. Ich wollte mir das Gebäude näher anschauen und die Kinder in der Pause beobachten.
Ich hatte Angst davor, sie elend, ohne Schuhe und deprimiert aufzufinden, in ihnen das Kind zu erkennen, das ich vor 15-20 Jahren gewesen war, aber, obwohl sie aus einem Ghetto kommen, trugen sie saubere Kleidung und waren superglücklich. Die Sonnenstrahlen durchbohrten die kalte Luft und das Kichern der Kinder füllte alles aus, was an der Stelle fehlen könnte, während sie hintereinander herliefen und sich auf den Po oder im Nacken abklatschten, Grüppchen um Grüppchen.
Nachdem es geläutet hatte, haben die Lehrer sie in die Bibliothek gequetscht und begonnen, sie nach Klassen aufzuteilen. Während sie besprochen haben, wo sie sich am besten hinstellten, um die Kinder gut überwachen zu können, hat der Boden vibriert, wurden Stühle gegeneinandergestoßen, die Kinder rannten andere Kinder um und lachten mich an, mich, den Fremden, den Komplizen. Wie ein Komplize habe ich ihnen aus einer Ecke zugezwinkert. Das war wie in einem Video von Eminem: der lustige Ungehorsam versus die Unbeholfenheit der Autorität.
Als sich das Gewimmel einigermaßen beruhigt hatte, haben sich die Lehrer gewundert, dass ich sie bat, den Raum zu verlassen. Ich musste darauf bestehen und den Witz bringen, dass ich dafür einen Kaffee ausgebe.
Nachdem sie der Reihe nach die Bibliothek verlassen hatten, ist es ruhig geworden.
Ich habe versucht, sie anzuschauen, einen nach dem anderen, mir ihre Gesichter und Gesichtsausdrücke zu merken.
Irgendwo – ich dachte, dass es im Hauptgebäude war – wurde eine Tür zugeschlagen.

"|© Mihaela Coșoreci"
Einigen wurde sehr schnell klar, dass sie das Gespräch nicht interessiert. Als wir fertig waren, sollte ich ihnen etwas über Fußball, tanzen und Autos erzählen, darüber, wie es zu meiner Zeit gewesen war, wie es war, ein armer Schlucker zu sein, und wie ich nur durch Lesen „aufsteigen“ konnte - halt Sachen, die gut ankommen. Als sie gemerkt haben, dass ich tatsächlich vorhabe, sie mit Literatur zu quälen, haben sie ihren Ball genommen und sind aufs Feld gegangen.
Da habe ich ihnen gut zugeredet, dass vielleicht einer von ihnen durch Fußball „aufsteigen“ wird – das wäre wunderbar.
Ich konnte sie durch das Fenster sehen.
Die Mädchen, sie waren erwachsener, haben alle bis zum Ende ausgehalten und überlegt, ob sie das Gehörte anwenden könnten, mal zuversichtlicher, mal mit sich selbst hadernd,
ob sich diese Anstrengung, das Lesen, tatsächlich lohnt oder ob es keine realistische Sache ist?
Sie wollten wissen, was und wann sie etwas davon hätten.
Ein Handvoll Kinder der ersten Teilnehmerrunde, aus der Sechsten und Siebten, haben sich tatsächlich auf die Bibliothekarin gestürzt, um am Ende des Workshops einen Bibliothekausweis zu bekommen. Eine Traube von Schülern hat die überforderte Frau umschlungen, sich gegenseitig mit den Ellenbogen angestoßen und mir zugelächelt.
Ja, genau, überstürzt sie!
Die große Überraschung kam allerdings von der achten Klasse, die ich gleich danach getroffen habe. Die Kleinen konnten mir einen einzigen Schriftsteller nennen, Ion Creangă, und haben nicht gewusst, ob er gestern oder vor hundert Jahren gelebt hatte, die Kinder aus Mihaelas Klassen allerdings hatten sogar Lieblingsautoren.
30. März
Ich schreibe auf, was ich mit Irina beim Frühstück besprochen habe.
Das alles hat nichts mit dem mangelnden Wissen zu tun – was sich durch die schlechten Lebensbedingungen zu Hause erklärt, durch das Desinteresse der älteren Geschwister und der Eltern, durch die Nachbarn und Menschen um sie herum, die verständlicherweise keinen Wert auf Schule und die Gesellschaft legen, die sie diskriminiert und schon aus der Wiege heraus auf die abscheulichste Art herabwürdigt – nein, das hat nichts damit zu tun, sage ich mir selbst, dass einige Klassen selbstgefällig und verkrampft wirken, während andere sehr gut abschließen. Es gibt andere Ursachen.
Die Schüler, die sich nicht zurückgehalten haben, die geantwortet haben, haben bewiesen, dass sie denken, dass sie Phantasie haben, dass sie fähig sind, im Plenum intuitiv wahrzunehmen, worüber ich spreche. Je weiter ich gegangen bin, desto aktiver wurden mehr und mehr Schüler.
Es ist ein Klischee, aber ich kann nichts dafür: Ihre Augen haben geleuchtet, ich habe gesehen, wie sie Rückschlüsse zogen, wie sie sich gefreut haben, dass jemand mit ihnen Witze reißt.
Am Anfang haben sie sich auf den Stühlen zurückgelehnt, nach dem Motto Was will der denn? Am Ende allerdings haben sie mich nicht mehr ausreden lassen.
Hallo, Mister, Mister, ich weiß das, hallo!
5. April
Heute haben wir zusammen die Erzählung
Dragostea m-a părăsit la 12 ani (
Die Liebe verließ mich mit 12), geschrieben von Ionuț Chiva, gelesen. Sie fanden es lustig und waren gleichzeitig verblüfft, dass der Teenager in der Geschichte raucht und eine „schlechte Sprache“ hat. Jemand hat mich gefragt, ob es legitim ist, wenn Schimpfwörter in Büchern aufkommen. Wir sind so verblieben, dass sie eine kontemporäre Geschichte schreiben, inspiriert aus ihrem Leben, mit oder ohne Schimpfwörter.
6. April
Folgendes habe ich Irina noch gesagt: Diese Menschen brauchen mehr als alles andere Zuneigung, Zuwendung, Vertrauen und das Gefühl, dass irgendwo – in der Schule zum Beispiel – jemand auf sie wartet, dem ihr Leben nicht egal ist.
Das Schema ist einfach: Wenn man ihnen Aufmerksamkeit schenkt, lesen die Schüler später dir zuliebe, sie lernen, motiviert durch das Vertrauen und den Respekt, den man ihnen im Voraus geschenkt hat.
Im Großen und Ganzen sind es emotional abgestumpfte Kinder. Wenn man sie für sich gewinnen möchte, muss man da anfangen. Die emotionale Bindung muss aufgebaut werden.
Die Frage ist einfach: Wo findet man Lehrer mit solch einer seelischen Großzügigkeit? Wie formt man die Lehrkräfte auf diese Art? Wie motiviert man sie?
Ohne solche Lehrkräfte werden Kinder aus ärmeren Familien, vor allem die aus Roma-Familien, von dem Druck der anderen, unserem Druck, plattgemacht. Sie können es nicht verstehen, wozu Lernen gut ist, der Zukunft blicken sie schräg entgegen – genauso wie alle anderen auf sie blicken – und was auf sie wartet – das wissen sie ganz genau – ist, in einer Mall oder einer Fabrik den Boden zu wischen, da, wo die Kunden und die anderen Mitarbeiter weiterhin schräge Blicke auf sie werfen werden, ihnen ausweichen werden, sie isolieren, so wie sie es auch mit ihren Eltern getan haben.
Bild© Mihaela Coșoreci
18. April
Endlich habe ich etwas gefunden, das wir zusammen lesen können. Nachdem mir ein Dutzend Erzählungen und Romanauszüge von rumänischen oder bessarabischen Schriftstellerinnen durch den Kopf gegangen waren (letztes Mal hatten wir über einen rumänischen Autor gesprochen und ich empfahl ihnen auch weitere ähnliche Schriftsteller. Mihaela hatte mir dann Bilder mit Schülern, die im Klassenzimmer
So verbrachte ich meine Sommerferien, Augustin Cupşa, Ovidiu Verdeş o.a. lasen, geschickt), habe ich mich für einige Kapitel aus
Meine geniale Freundin von Elena Ferrante entschieden. Vor allem möchte ich ihnen zeigen, dass häusliche Gewalt, die sie sehr wahrscheinlich miterleben, in erster Phase durch Literatur leichter verdaut werden kann, dass sie einen Raum schafft, in dem ein Trauma angenommen und teilweise geheilt werden kann.
Schau an, Lila schreibt an einem Roman.
Außerdem hoffe ich, dass sie an der Idee festhalten, dass es sich lohnt, weiter zu lernen, weiter zur Schule zu gehen, ganz egal, was ihre Eltern oder ihre Geschwister dazu sagen. (Außer einem Jungen, der Koch werden möchte, und einem Mädchen, das Frisörin werden möchte, hat keiner von ihnen Interesse daran bekundet, nach der achten Klasse weiter zur Schule zu gehen, einen Abschluss zu machen oder einen Beruf zu erlernen. Nicht einmal diejenigen aus Mihaelas Klasse, denen es vor dem Tag graut, an dem sie nicht mehr bei ihnen sein wird – und ihr graut es gleichermaßen vor dem, was später aus ihnen wird.)
In dem ausgesuchten Romanauszug darf Lila nicht mehr weiter die Schule besuchen. Sie ist allerdings ehrgeizig und lernt alleine.
3. Mai
Zwei Mal sehen wir uns noch in diesem Monat. An einem der Treffen werden wir Gedichte lesen, dann kommt die große nationale Prüfung. Die Atmosphäre ist interessant. Die Prüfung macht ihnen überhaupt nichts aus. Mihaela hat mir erzählt, dass im letzten Jahr nur zwei Kinder die Prüfung bestanden haben. Sie hat aber auch gesagt, dass es Jahre gab, in denen gar keiner die Prüfung geschafft hat.
14. Mai
Wenn ich anfangs verängstigt und egozentrisch war – ich hatte Angst, dass sie mich nicht mögen würden, Oh Gott! ich werde nicht gut genug für sie sein – dann bin ich jetzt fest davon überzeugt, dass sich dieses Projekt über das ganze Jahr strecken müsste und unsere Treffen wöchentlich stattfinden sollten, so wie die Teilnahme an einem Wahlfach. So sollte es im nächsten Jahr geschehen, wenn wir tatsächlich helfen wollen und eine Wirkung erzielen möchten.
15. Mai
Wie auch immer, es macht überhaupt keinen Sinn, darüber zu sprechen, wie wir Künstler und Intellektuelle nach Bukarest ziehen, oder in anderen Großstädte, nahe dran ans Geschehen, dort angekommen, uns nach einer gewissen Zeit gegenseitig auffressen, dann vereinsamt, bovarisch und verkorkst sterben, ohne einen Sinn. In dieser Zeit den Kindern beizustehen, die eine helfende Hand brauchen, würde bei Weitem mehr „Ansehen“ als jeder Literaturpreis bringen, nämlich in 10–15 Jahren die Veränderung, die wir über Facebook und andere Medien als so ultrawichtig beschwören.
Mehr Schriftsteller an die Schulen! Vor allem an solche, die normalerweise vom Schicksal benachteiligt worden sind, an die Ghettoschulen, wo die Kinder Zuspruch brauchen, jemanden, der ihnen zuhört und sie motiviert!
Wir sollten aktiv werden! Das belegen auch die Studien: Ein gutes Anxiolytikum und Antidepressiva mit garantierter Wirkung ist, wenn man anpackt, vor allem, wenn etwas Seriöses ansteht, mit langfristigen, erkennbaren, für die Gesellschaft nützlichen Erfolgen.
Ich rede, aber ich rede umsonst. Ich weiß, dass wir uns eigentlich nur um uns selbst sorgen. All das ist nur ein Geistesblitz beim Anblick der Servicekräfte, die das fettige Tablett, von dem wir in der Mall ekelige Pommes gegessen haben, abräumen.
Ein Geistesblitz, der sofort Ängste, die wir nicht verstehen können, auslöst. Wir setzen ein falsches Lächeln und unsere Sonnenbrille auf, während wir verschreckt weggehen.
Tagebuch eines Schriftstellers (Jurnal de Scriitor) ist ein von der Schule für
Begabtenförderung - Școala de Valori implementiertes Projekt mit finanzieller Beteiligung der Verwaltung des nationalen Kulturfonds (Administrația Fondului Cultural Național) und der Unterstützung der Partner Avis, Forbes, Goethe Institut und Radio România Cultural.