Dr. Mithu M. Sanyal, Autorin, Kulturwissenschaftlerin und Journalistin. Für ihre Hörspiele und Feature hauptsächlich für den WDR erhielt sie bereits dreimal den Dietrich Oppenberg Medienpreis der Stiftung Lesen. Ansonsten Arbeit für diverse Sender und Zeitungen, wie den BR, SWR, Deutschlandfunk, Bundeszentrale für Politische Bildung, DIE ZEIT, SPIEGEL ONLINE, MISSY Magazine, SPEX, Konkret, Vice etc. Sie hat eine regelmäßige Kolumne in der taz.
2009 erschien ihre Kulturgeschichte des weiblichen Genitals "Vulva" im Wagenbach Verlag, Neuauflage 2017, 2013 schrieb sie zusammen mit den#aufschrei Frauen "'Ich bin kein Sexist, aber ...' Sexismus erlebt, erklärt und wie wir ihn beenden" (Orlanda), 2016 erschien ihre Debattengeschichte "Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens" in der Edition Nautilus. Dafür wurde sie mit dem Preis „Geisteswissenschaften international“ ausgezeichnet.
Kokosnüsse sind keine Nüsse
„You’re a coconut.“ Jemand sagt das zu Nivedita, und sie versteht kein Wort. Also sie versteht jedes Wort, aber sie weiß nicht, was das bedeuten soll. Sie weiß noch nicht einmal, wer von den anderen Kindern es zum ersten Mal ausgesprochen hat, aber plötzlich sagen es alle: Coconut! Coconut!
Es ist Sommer, grell und gelb wie Lemon-up-Shampoo, wie Kurkumareis, wie die Duftbleistifte, die sie und ihre Cousine Priti anspitzen, bis sie Stummel sind, um ihren synthetischen Duft zu inhalieren. Die Fächer des Spitzspans schweben in Locken auf das mit Kreide in Himmel und Hölle geteilte Pflaster der Gasse entlang der Hinterhöfe. Auf einem Stapel Paletten, einer Kühltruhe, aus der die Kabel quellen wie Darmschlingen, und einem verbeulten Einkaufswagen sitzen und kauern Kinder, die alle aussehen wie Nivedita.
„Dort sehen die Kinder aus wie du,“ hatte ihre Mutter versprochen, während sie die Koffer für den Besuch bei der Tochter von Papas ältester Schwester packte. Dafür gibt es eine eigene Bezeichnung, die Nivedita nicht kennt. Sie weiß nur, dass Papas älteste Schwester Didi ist. Ist nicht heißt. Ihr Name ist Purna und ihre Tochter Leela ist --- Nivedita kann noch immer nicht fassen, dass die schöne, hochmütige Frau in dem flammenfarbenen Sari, die sie am Flughafen abgeholt hat, ihre Cousine sein soll, obwohl sie so alt ist wie ihre Mutter und selbst eine Tochter in Niveditas Alter hat: Priti. So viele Namen, so verschlungene Familienbande.
Aunty Leela, die eigentlich
cousin Leela ist, fährt ein mini Auto, das wiederum kein Mini ist, sondern ein Vauxhall Chevette. Sie wohnen in Birmingham, aber Priti und Leela nennen es Balsall Heath. Oder auch Balti Heath, weil auf ihrer Straße nur indische Familien leben und alle haben Kinder. Es ist, als wäre die Welt plötzlich braun geworden.
„Wir fahren nach Hause,“ hatte Nivedita in der Schule erzählt. Nicht, weil sie Birmingham ernsthaft mit Bombay verwechselt hätte, sondern weil sie auch einmal nach Hause fahren wollte, wie ihre italienischen und griechischen und jugoslawischen Freundinnen. Und auf den Fotos, die ihre Mutter von ihr und Priti und deren kleinem Bruder Aarul gemacht hat, sehen sie tatsächlich aus, als wären sie in Indien. Zumindest stellt sich Nivedita Indien so vor, voller Sofas und Wandbehänge, die mit winzigen runden Spiegelscherben bestickt sind, als wären sie mit Glitter bestreut. Als sie die Bilder bei Boots das erste Mal aus ihrer knisternden Papiertüte gezogen hat, spürte sie, wie sich etwas in ihrem Bauch ausdehnte, dass sie nicht identifizieren konnte, eine Mischung aus Wärme und etwas Neuem, Unbekanntem, ein nahezu triumphierendes Gefühl von Zugehörigkeit.
Es ist, als würde die coconutflüsternde Stimme aus der Gasse dieses Gefühl nehmen und zu einem kleinen, heißen Ball aus Scham pressen.
„Priti hat mich Kokosnuss genannt,“ sagt Nivedita beim Abendessen. „Was heißt das?“
Ihre Mutter schaut rasch über den Esstisch, wo Priti ungerührt ihre Chapatis zerrupft, und gibt ein hohes, albernes Kichern von sich. „Nichts, Liebling.“
Nivedita denkt eine Weile darüber nach, dann widerspricht sie: „Wenn es nichts heißt, würde sie es nicht sagen.“
Wieder das Kichern, das Nivedita in späteren Jahren automatisch zur Weißglut treiben würde, bereit, es ihrer Mutter auszutreiben, koste es, was es wolle. Auch dann noch, als ihre Mutter schon zu alt und krank ist, um eine andere Gegenwehr gegen die Wut ihrer Tochter zu haben. Doch an diesem Ferientag, als sich die Abendsonne sehnsüchtig gegen das Fenster wirft, um zu den gelb gestrichenen Wänden zu gelangen, die so viel strahlender und wärmer sind als sie, hat sich das Lachen ihrer Mutter noch nicht mit Jahren von Konfliktvermeidung und Ausweichen aufgeladen. Es macht Nivedita nur ungeduldig. „Was heißt Kokosnuss?“ insistiert sie, ihre Stimme nicht lauter, aber durchdringender, und dieses Mal blickt Priti auf.
„Vielleicht, dass Kokosnüsse haarig sind? Und du hast so schöne, lange Haare,“ schlägt ihre Mutter nervös vor, und Nivedita ist sich sofort ihrer Augenbrauen bewusst, die über der Nasenwurzel zusammen streben, als wollten sie die Tatsache unterstreichen, dass sie niemals für die Rolle der Maria im Krippenspiel ausgewählt werden wird. Das ist Mädchen wie Nicole vorbehalten, deren zarte Brauenbögen in steter Überraschung nach oben gewölbt sind: Ich? Als Maria? Wirklich?
Später würde Nivedita ihre Augenbrauen mit Kajal zu einer Monobraue malen, wie Frida Kahlo und #unibrowmovement. Aber später ist später, und in diesem Moment kann sie sie nur zusammenziehen und Priti finster anstarren, die bösartig zurückblickt. Hauptsächlich, weil Priti mit einer Rüge von ihrer seltsamen deutschen Tante rechnet, doch die lächelt nur vage über den Esstisch. Deutsche Frauen sind töricht, beschließt Priti. So ganz anders als in
Water, wo Michael Caines Filmfrau Brenda Vaccaro aggressiv und sexy sagt, wo es lang geht. Nur die Sache mit den Achselhaaren stimmt.
Nach dem Essen nimmt Priti Nivedita zur Seite. „You want to know?“ fragt sie beinahe zärtlich und von diesem Moment an, bis sie die Scherbe in Form eines perfektes Paisley-Fischchens in ihrer Hand halten wird, kann sich Nivedita an nichts erinnern. Nicht, wie sie mit Priti das Haus verlässt, wie sie zusammen auf die Kühltruhe klettern, wie die anderen Kinder einen Kreis um sie bilden. Wann immer sie später versucht, die Szene zu rekonstruieren, verschwimmt das Flüstern in einer Sprache, die sie nur halb versteht, mit dem lauten Statement: Du bist keine echte Inderin --- Wieder und wieder vorgebracht, wann immer in den nächsten Jahrzehnten herauskommt, dass sie weder indisch kochen/tempeltanzen/meditieren kann, noch eine der 122 indischen Sprachen spricht.
Außer Englisch, selbstredend. Doch, Englisch zählt nicht.
Aber auch Hindi zählt nicht, als Nicole das Jahre und mehrere Ashramaufenthalte später perfekt lernt, da niemand Nicole mit ihren hennaroten Haaren und ihrer milchweißen Haut für eine Inderin halten würde. Nur Nivedita eben auch nicht, trotz Haut und Haaren. Das liegt nur bedingt an ihrer deutschen Mutter, die nach englischem 80er-Jahre-Kino-Standart noch nicht einmal richtig deutsch ist, bis auf die Haare unter den Achseln.
„Du gibst dir einfach keine Mühe, indisch zu sein,“ wird eine Kommilitonin es irgendwann auf den Punkt bringen. Und das macht Sinn, denn für Leute wie sie ist Sein nicht etwas, was man ist, sondern, was man tut. In Niveditas Fall bedeutet das, das Klischee einer Inderin anzustreben. Dummerweise beziehen sich Klischees in der Regel immer auf die konservativsten Aspekte einer Angelegenheit, auf eine Sita-Inderinnen-Weiblichkeit anstatt auf Kali-Inderinnen-Queerness. Lange denkt Nivedita, das läge daran, dass Indien so weit weg ist.
Später beschließt sie, dass das mehr mit emotionaler Distanz – sprich: Kolonialismus - zu tun hat, als mit geographischer Entfernung. Der erste Junge, in den sie sich verliebt, ist wie sie
gemischt, was der Grund ist, warum sie sich in ihn verliebt. Doch, obwohl er Französisch erst am Gymnasium lernt, ist er stolzer Franzose. Denn Französisch-Sein ist etwas, was Menschen sich vorstellen können, weil sie es aus Filmen kennen, in denen viel geraucht und geredet wird. Und, wir haben schließlich alle schon einmal geraucht oder zumindest geredet.
Nachdem ihre Kommilitonin ihr sagt, wie richtiges Indisch-Sein funktioniert, wird Nivedita sich ein T-Shirt machen
: This is what an Indian looks like. Und dann das
looks wegstreichen und durch
feels ersetzen, falls Identitäten etwas sind, was man fühlt. Falls Identitäten überhaupt etwas sind. Das ist das Problem: Sobald man einmal anfängt nachzudenken, fächert sich die Wirklichkeit in so viele Dimensionen auf, dass es keine Worte dafür gibt.
All das weiß sie noch nicht, als sie auf der Kühltruhe sitzt und die Rückseiten ihrer Sandalen gegen das weiß lackierte Metall klappern. Die Scherbe ist schilfgrün mit gelben Sprenkeln und leicht gebogen, als wäre sie ein echter Fisch und Nivedita würde sie durch das Wasser eines Sees sehen, auf dem sich das Sonnenlicht spiegelt. Doch sie ist fest und real in ihrer Hand. Fest und scharf an ihrem braunen Arm. Außen braun innen --- „Ich bin von innen nicht weiß, ich bin rot: Look!“ In diesem Moment hat sie die ungeteilte Aufmerksamkeit der anderen Kinder und, ja, sogar so etwas wie Respekt. „Und wer ist rot? Indians!“ Triumphierend, als wäre es okay, einen Rassismus durch einen anderen zu ersetzen: „I’m an Indian!“
„American Indian,“ sagt ein Mädchen mit Dreadlocks verächtlich.
Nivedita will widersprechen, doch ihr fehlen die Worte. „Anglo Indian“ fällt ihr schließlich ein und alle Kinder brechen in schallendes Gelächter aus. Der Schnitt beginnt zu brennen, sie muss dringend pinkeln und noch dringender weinen, als sie eine Hand an ihrer Schulter spürt. Jemand klopft ihr auf den Rücken. Sie hätte nicht gedacht, dass das Kinder außerhalb von Enid Blyton Büchern tun. Doch jemand klopft ihr unbestreitbar auf den Rücken: „Good for the coconut.“
Es ist die selbe Stimme.
„Coconuts aren’t nuts. They‘re fruit,“ verkündet Priti und springt von der Kühltruhe.alității.