Lea Schneider (*1989 in Köln) lebt nach längeren Aufenthalten in China und Taiwan als freie Autorin, Übersetzerin und Kritikerin in Berlin, wo sie mit dem Lyrikkollektiv G13 an Gedicht-Performances und Formaten des kollektiven Schreibens arbeitet. 2014 erschien im Verlagshaus Berlin ihr Debütband „Invasion rückwärts“, der u. a. mit dem Dresdner Lyrikpreis ausgezeichnet wurde. 2016 folgte das an der Grenze von Lyrik, Prosa und Bildender Kunst operierende E-Book „O0“ (in Kooperation mit Tillmann Severin und Sebastian Severin).
Als Übersetzerin und Kuratorin chinesischer Gegenwartslyrik war sie u.a. für das poesiefestival berlin, lyrikline.org, das Goethe-Institut China und die Bundeskulturstiftung tätig. Momentan übersetzt sie für die Edition Lyrikkabinett im Hanser Verlag eine Sammlung von Gedichten des chinesischen Lyrikers Zang Di und arbeitet an ihrem nächsten Lyrikband, der im Frühling 2020 im Verlagshaus Berlin erscheinen wird. 2018 wurde Schneider mit dem Postpoetry NRW-Preis sowie mit dem Poetry East West Translation Award ausgezeichnet.
[augen, babies, utopien, schmetterlinge]
augen, babies, utopien, schmetterlinge: die meiste angst habe ich vor sachen, die man leicht zerstören kann. die, wenn kaputt, sofort für immer sind. ihre verletzlichkeit ist ein problem der form, deshalb kann ich nichts daran ändern. es ist ärgerlich, dass das nicht geht. dass insgesamt so wenig großes stattfindet. ich muss niesen, um mir die zeit zu vertreiben, und fühle mich unterschätzt. als sei ich nur das seltene tier und nicht die umfassende abhandlung, die ein zoologe darüber geschrieben hat; nur eine diode und nicht der schaltplan. aber ohne abstraktion keine handlungsmacht. dabei bräuchte ich bloß genug autorität, um „liebe“ zu sagen. ein sehr großes risiko, das – aus anderen gründen – belohnt wird. das entweder wirklich alles zerstört (version: ewigkeit) oder alles repariert und einen stabilisator einbaut, ein upgrade, mit dem man es auch im alltag benutzen kann.
[an manche ängste gewöhnt man sich. oblomophobie zum beispiel]
an manche ängste gewöhnt man sich. oblomophobie zum beispiel: die angst vor denken und tun. sie entsteht aus der erkenntnis, dass die meisten probleme sogar dann langweilig sind, wenn man sie selber hat. man kann daher nichts machen – was vielleicht funktioniert. vielleicht zwischen barocken fragestellungen (wie wirft man die schönsten falten, wie geht gegensätzlichkeit) ein bühnenbild bewohnen, stillleben mit sofa und schnaps. vielleicht mit gegrilltem dazu. vielleicht ist es eine grillparty, auf der er sich eröffnet, der zusammenhang von langeweile und wahrheit: die eine ist bedingung der anderen, und die stellen dazwischen hat man so lange nicht mehr geputzt, dass sie mittlerweile verwachsen sind: ein vollgestopfter kostümfundus, unseriös wie ein kaktus.
Chasing sheep is best left to shepherds. (Michael Nyman)
[eigentlich willst du nicht sehen, was da ist]
eigentlich willst du nicht sehen, was da ist, sondern wie das licht auf ihm liegt. ein notwendiger akt von schönheit, er schimmert im wasser. spiegelt sich in wunschmünzen ohne wechselkurs, einem projekt jenseits der näheren zukunft. alles kann gerettet werden: du kannst glücklich sein und recht damit haben. recht haben ist, natürlich, das problem: der impuls, alles in den mund zu stecken, was du anders nicht verstehst, und die finger in den himmel, luftwurzeln über demselben gras. sie wachsen aus deinen taschen, wachsen an zu einer hoffnung, einem geflecht oder knäuel in hypertropher umgebung. das perfekte setting für schöpfungsmythen: wie es wäre, wenn es nicht anders wäre. nicht pflanze, nicht tier. aber immer schon da: ein uraltes lebewesen mit mehr als acht quadratkilometern ausdehnung, glücklich und eiweißhaltig, punktuell sichtbar.