Im Januar 2019 fand die Uraufführung ihres Musiktheaterstücks
Die Traumbeschauten - ein Abend um Egon Schiele in St. Gallen statt.
2012 war Laura Vogt Siegerin beim Schreibwettbewerb des Thuner Literaturfestival Literaare, 2014 erhielt sie einen Werkbeitrag der Ausserrhodischen Kulturstiftung und 2017 einen Werkbeitrag der Stadt St. Gallen.
So einfach war es also zu gehen
Romanauszug aus
So einfach war es also zu gehen, Edition Literatur Ostschweiz, von
Laura Vogt
Gierig schlang ich Brötchen um Brötchen in mich, Khaled folgte meinen Bewegungen mit ruhigem Blick. Hinter ihm balancierte eine Kellnerin ein volles Tablett durch das Gartencafé, mein flaues Magengefühl verflüchtigte sich. Ich richtete mich auf.
Dreh mir eine Zigarette, forderte ich, schob den Teller auf die Seite. Khaled kramte seinen Tabak aus der Jackentasche.
Rauchst du wegen mir?, fragte er, ich schüttelte den Kopf.
Die ganze Welt raucht, mein Vater hat geraucht, ich rauche, antwortete ich, ohne zu überlegen. Ist eine Familiensünde, von der ich nicht wegkomme, obwohl wegen Vaters Sucht sein Haus abgebrannt ist, mein Kindheitshaus. Dass er im Haus war, fügte ich hinzu, wie auch ich, dass wir es gerade noch hinausschafften. Ist lange her.
Ich nahm einen Zug von meiner Zigarette, der Rauch kräuselte sich, und ich erzählte weiter, von einem Vater, an den ich plötzlich dachte, meinem, der jetzt in einem Nationalpark arbeite, Parkwächter sei, im Osten der Schweiz. Er sei kein Jäger, sondern führe die Leute durch die Landschaft und erkläre Berge, Blumen, Bäume, Tiere. Er reiche den Frauen Feldstecher, wenn in der Ferne eine Gämse oder ein Hirsch zu sehen sei, zünde ihnen ihre Zigaretten an, die sie in einem Taschenaschenbecher ausdrückten, den er immer griffbereit habe.
Ich verstummte und hatte Vater vor Augen, wie er aus seinen Hosentaschen allerlei zauberte: Cola-Frösche und Maultrommeln, Schraubenzieher und Nägel, Nasenklammern, einen Geldbeutel, in dem griechische Drachmen aufbewahrt wurden, D-Mark und französische Francs, unleserliche Notizzettel, Fotografien.
Am Himmel eine tiefliegende Wolke, wie aufgeklebte Watte, im Vordergrund rotes Gestrüpp. Man spürt die Kargheit der Landschaft, sie ist sommerlich ausgebrannt. Links und rechts auf dem Bild ziehen sich Fichtenwälder am Fuß der Berge entlang. Das Tal neigt sich abwärts, im Vordergrund ist Vater zu sehen, fahl ist seine Gesichtshaut geworden, doch er steht noch genauso aufrecht da, wie ich ihn aus Kindheitstagen kenne, in voller Größe. Er hat den Mund leicht geöffnet und die Zunge an der Oberlippe. Sein abwesender Blick gleitet in die Kamera. Neben ihm steht eine Frau mit schwarzem Haar.
Die plötzliche Erinnerung machte mich baff. Es war das Bild, das ich vergraben hatte beim Bach neben unserem Kindheitshaus, bei den Meerschweinchenschädeln, Hamsterknochen, Schneckenhäuschen, unter den Schlüsselblümchen, gepackt in Abschiedsworte. Es war das Foto, das ich geschossen hatte in jenem Herbst, wenige Monate, bevor Vater seine Entscheidung traf für die Frau, die neben ihm stand, und gegen Naomi und mich, wenige Monate, bevor er endgültig von der Bildfläche verschwand.
Ich schaute Khaled in die Augen und führte die Milchkaffeetasse an die Lippen. In großen Schlucken trank ich sie aus. Schleim bildete sich in meinem Mund. Ich stellte die Tasse ab, rülpste leise in die Handinnenfläche und senkte den Blick.
Dein Vater ist also eine Art Ranger?, fragte Khaled.
So ähnlich, antwortete ich. Aber eigentlich wollte er einst Geographie und Meeresbiologie studieren, Philosophie und Veterinärmedizin. Schon als er noch jung war, gab es die Studiumsabbrecher, die Ewig-Unentschlossenen, die sich lieber ins Schwimmbad zurückzogen und sich rühmten, dass sie mehr als eine Länge ohne Unterbruch tauchen konnten, oder Tage irgendwo auf einer Alp in der Ostschweiz verbrachten, mit Skiern unter den Füßen und frohem Mut, ohne Absicht, mit immergutem Willen.
Ich verstummte und dachte an die Saxerlücke, jenen Graben in den Voralpen, wo sich der Ostteil des Gesteins einst gesenkt und um einen Kilometer verschoben hatte, dachte an den Blick von dort oben ins sattgrüne Appenzellerland. Khaled erzählte, dass auch sein Vater begeistert gewesen war von der Bergwelt, dass er einmal einen Ausflug in die Schweizer Voralpen gemacht habe, kurz nachdem er nach Deutschland ausgewandert war. Er hätte erwartet, dass die Hügel und Berge irgendwo enden würden, in einer unbelebten Weite, in einer ägyptenähnlichen Wüstenlandschaft. Dass hinter jedem Hügel ein neuer Hügel kam, ein Berg und ein noch höherer Berg, ein grünes Tal und wieder ein Berg, das hätte sein Vater nicht fassen können, erzählte Khaled.
Wer kann das schon, sagte ich, schroffer, als ich wollte.
Schöner Schweizer Kopf, bemerkte Khaled, strich mir eine Franse aus den Augen. Gleichst du deinem Vater?
Ich zog an der Zigarette, meine Kehle war trocken.
Keine Ahnung, sagte ich. Ich habe ihn Jahre nicht gesehen. Ich würde jetzt gern noch was trinken, Khaled.
Wie du meinst, sagte er, und lehnte sich zurück.
An diesem Nachmittag kam Khaled zu mir in die Pension. Er nahm mich ein, alles und nichts, ein Schweben dazwischen, an einem warmen Ort, Khaled in mir, stoßend, ein Gemenge, eine Suche nacheinander. Dieser kurze Moment dann doch, in dem alles bricht, in dem ich brach. Danach lagen wir auf dem Bett, in dem grauen Laken, schauten zur Decke, Khaleds Hand auf meinem Bauch, das Kondompäckchen klebte an meinem Rücken.
Und, hast du gestern hier auf mich gewartet?, fragte er.
Bist ein Arschloch, sagte ich.
Er nickte. Die Nachmittagssonne schien ins Zimmer und zeichnete durch die Samtvorhänge Muster auf den Boden. Ich schloss meine Augen und fühlte Khaleds warmen Körper, dann dämmerte ich ein.
Als ich wieder aufwachte, war das Sonnenlicht auf mein Gesicht gewandert. Lichtpartikel kreisten auf meinen geschlossenen Lidern, bewegten sich erst langsam, dann immer schneller durcheinander und wurden zu einem Funkenflug, getragen von einem Windstoß, durch den das Haus Feuer fängt. Die Flammen greifen um sich, fassen alles an mit ihren heißen Fingern, fressen sich ins Holz, haben schon gewonnen, schnalzen, bringen die Balken zum Fallen, Glas klirrt, ein Katzenschrei.
Du bist heiß, murmelte ich, öffnete die Augen und drehte meinen Kopf in Khaleds Richtung.
Er kippte seinen Fuß auf die Seite und berührte meine Zehen.
Bin ich dir nicht zu jung?, wollte ich wissen.
Khaled schaute mich an.
Sag mal, hat dein Vater das Haus eigentlich absichtlich abgefackelt?, fragte er, anstatt mir zu antworten.
Ich verneinte und erzählte nach kurzem Zögern, dass ich zehn und die Eltern schon seit drei Jahren getrennt waren. Vater war nach seiner wilden Studienzeit ein zuverlässiger Primarschullehrer geworden und gab auch Klavierstunden. Man kannte ihn gut im Ort. Manche Frauen lullten ihn förmlich ein, damit er ein, zwei Nächte bei ihnen blieb. Er wollte nichts als das alte Haus und lebte dennoch in einer kleinen Wohnung, im selben Dorf. Nur ein Teil meiner Sachen war auf dem Dachboden im Haus geblieben und verbrannt: Bücher und Fotobände, meine ersten Tagebuchnotizen, Kindergartenzeichnungen, die rote Jeansjacke.
Ich hielt inne, fingerte das Kondompäckchen unter meinem Rücken hervor und umschloss es mit der Faust. Wir gingen jeden Tag zurück zur Brandstelle, bis die Räumungsarbeiten begannen, erinnerte ich mich. Die Esche, die neben dem Haus stand, wurde abgesägt, sie hatte innerlich zu glosen angefangen.
Der Baum wird erlöst, sagte Vater.
Die geschwärzten Balken lagen übereinander, der Ort wirkte kleiner als früher. Der Kachelofen stand in der Mitte der Brandstelle, darauf lagen zwei unversehrte Röcke. Khaled kniff mich in die Seite, ich stürzte mich auf ihn.
Nimm mich, Khaled, nimm, friss und stirb, hörte ich mich sagen.
Er schob mich von sich.
Nimm mich zu dir, damit ich an deinem Brustkasten ruhen kann, flüsterte ich und strich mit meinem Finger über seine Stirn.
Ich brauche jetzt erst mal etwas in den Magen, sagte er, und schälte sich aus dem Bettlaken. Lass uns Pizza essen, ergänzte er, das bringt uns auf neue Gedanken.
Ich hörte das Rascheln seiner Kleider, die er vom Boden aufhob.
Die Gier, ein Grenzgänger, sagte ich.
Khaled stand mit den Kleidern in den Händen am Fußende des Bettes und schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ich drehte mich von der einen auf die andere Seite, als würde ich ihm meine Taille präsentieren, war nackt und fühlte mich dennoch nicht entblößt, war gebettet im Gedanken an einen dunklen Raum, in den einer nach dem anderen eintritt, Vater, Mutter, Naomi; ich liege auf dem Boden, höre das Knacken von Holz und sehe durchs Fenster die Esche: Herbstfrüchte, Winterstille, Frühlingsblühen. Was für ein Zirkus, sagt Mutter und bleibt auf der Türschwelle stehen.
Also los, kommst du mit unter die Dusche?, fragte Khaled.
Ich griff nach der Decke und zog sie bis zum Kinn.
Es geschah selten, sagte ich, aber immer, wenn ich später, nach dem Brand, nach den Umzügen, von der Kinderzeit träumte, dann vom alten Haus. Alle waren dort, der Vater mit seinen langen Beinen, der sich den Kopf anstößt und die Mutter, die zu Boden schaut und immer denkt, die Schwester, die in der Ecke sitzt und ihre Finger zählt und zählt und zählt.
Khaled umfasste mit beiden Händen meinen Kopf.
Ich höre dir gerne zu, sagte er. Auch wenn ich nur die Hälfte von dem verstehe, was du sagst. Aber ich brauche jetzt eine Dusche, und dann würde ich gerne ausgehen.
Er schritt Richtung Badezimmer und schloss die Tür hinter sich. Hätte er nur eine einzige weitere Frage gestellt in diesem Moment, so dachte ich Monate später, eine, die schon damals den Stöpsel aus dem Abfluss gezogen hätte, ich hätte ihm restlos alles erzählt. Stattdessen hörte ich das Rauschen der Dusche und fühlte meinen Mut langsam versickern.
Meine Augen kreisten durchs Zimmer und verweilten immer wieder auf Khaleds Kleidern, die er über den einzigen Stuhl im Raum gehängt hatte. Ich bereute, dass ich das Foto von Vater in der kargen Landschaft nicht mehr besaß, dass ich auch kein anderes hier in Hamburg hatte, um ganz einfach auf Vaters Abbild deuten zu können und Khaled zu sagen: Schau, das ist er, der Vater, der sich das Haar schwarz gefärbt und lang hat wachsen lassen, der plötzlich von Karma redete, der Vater, der mir einst zwei Briefe geschickt hatte. Den ersten im Dezember, den zweiten im Februar danach. Er hatte darin seinen Abschied formuliert auf eine Art, die mir den Mund verschloss.
Mit harten Fingern klopfte ich auf meine Stirn. Ich muss Khaled einfach meine Stärke beweisen, schoss es mir durch den Kopf. Ich musste ihm zeigen, wie unabhängig ich war, damit er bei mir blieb. Immer heftiger trommelte ich, bis sich die Gedanken auflösten und ich Tropfen in meinem Gesicht spürte. Ich öffnete die Augen. Khaled stand zu mir hinuntergebeugt, das Wasser hatte sein kurzes krauses Haar geglättet. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, in ihn hineinzuschauen, seine Gesichtszüge aufgelöst, dann kehrten plötzlich seine scharfen Konturen zurück, wie drei Tage zuvor, als ich ihn das erste Mal gesehen hatte.
Wohin gehst du jetzt?, fragte ich.
Meine Stimme stockte, das Wort «gehst» verhakte sich in meiner Zunge, als wollte es dort liegen bleiben. Und doch hätte ich weiterfragen mögen, hätte wissen wollen, warum er mich schon nicht mehr in seinen Armen hielt, weshalb er mich nicht an seiner Seite schlafen ließ.
Khaled küsste mich sachte auf die Lippen.
Ich habe Hunger, das habe ich doch gesagt. Komm mit mir.