Aber jetzt weiß sie, dass sich Inseln im Herbst nicht unbedingt dazu anbieten, eine Beziehung zu beenden. Die Wiesen dort sind nicht grün genug, die Heide zu braun, die Heckenrosen verlieren ihre Restblüten und zeigen ihre Dornen, und man kann sich sicher sein, dass die Dünengräser platt gedrückt sind, weil es mindestens zehn Stunden am Tag regnet. Als Lara ihrem Freund vorgeschlagen hatte, sich noch einmal versöhnlich auf einen gemeinsamen Weg zu begeben, um etwas zu retten, war er zwar sofort einverstanden, aber setzte gleich hinterher: Das fällt dir ja früh ein. Warum sind wir eigentlich nie zusammen weggefahren? Lara sagte: Gute Frage. Jetzt sitzen sie im Auto, von den Eltern ausgeliehen, und fahren in Richtung Fähre. Sie können sich nicht auf die Musik einigen. Draußen regnet es in Strömen, auf den Straßen ist nichts los. Eigentlich optimal, um sich auf das Wageninnere zu konzentrieren. Keine landschaftlichen Höhepunkte lenken ab. Aber sie schweigen.
Lara hat Zeit, die Dummheiten von einer Woche zu rekapitulieren: Sie traf jemanden bei einer politischen Diskussion, sie tranken Bier, schauten von einer Terrasse in den Garten, es wurde schon ziemlich kalt abends, aber Lara redete sich in Fahrt, über Ehrlichkeit und dunkle Flecken, das Nichtwissen, das Nichtkönnen, und dabei schaute sie ihn fast nie an. Die Tischkerzen waren schon längst heruntergebrannt. Aber er hörte zu, nahm sie ernst, es erschien friedlich und vertraut. Als sie mit dem Bus zusammen nach Hause fuhren, sah sie ihre Reflexionen in den Fensterscheiben und dachte: Auf einmal sind wir auch ein Paar. Er sagte, sie wäre viel zu schlau für ihn. Sie sagte, dass sie nur bluffe. Er: Das macht nichts, du bluffst zu schlau. Als sie ein paar Haltestellen vor ihm ausstieg, drehte siesich nicht noch einmal um, denn sie war sich sicher, dass er ihr hinterherschaute. Ihr Mantel wehte auf der Rolltreppe. Eine Ankündigung von Bewegung. Und einige Tage später fragte er: Kaffee, Picknick, Kino? Sie entschied sich für Kino. Ging zu spät los, rannte die Straßen entlang, wieder wehte ihr Mantel. Viel zu dramatisch für diese Situation, dachte sie. Dass ich zu spät komme, lässt mich jetzt interessierter an ihm erscheinen als ich es bin. Ich lasse ihn warten, Mist. Als sie etwas verschwitzt und errötet vor ihm stand, hatte er schon zwei Karten gekauft, und, weil er dachte, dass sie nicht mehr käme, wieder verkauft. Also stellten sie sich noch einmal an die Kasse. Er war ein Hintensitzer. Lara war wie immer unentschieden. Woher wissen viele Menschen so genau, wo sie sich in bestimmten Situationen platzieren müssen? Wo sie hingehören? Während des Films bot er ihr an, von seiner Limo zu trinken. Aber das erschien ihr übertrieben und unpassend. Sie war nervös, lachte zu laut und an merkwürdigen Stellen.
Sie überholen einen Schwertransporter, der leicht ausschwenkt. Für ein paar Sekunden ist wegen des Spritzwassers durch die Windschutzscheibe nichts zu sehen. Lara winkt dem LKW-Fahrer zu. Das hat sie früher immer gemacht. Sie will jetzt einfach kurz einen anderen menschlichen Kontakt. Der Mann winkt nicht zurück. Du bist einfach so kindisch, sagt ihr Freund. Lara kann sich nicht daran erinnern, wie lange sie nach dem Kino noch mit dem Typen geredet hat. Auf jeden Fall ging sie alleine nach Hause. Einen Tag später traf sie einen alten Schulfreund im Zentrum der Stadt. Wieso treffe ich mich eigentlich nur mit einzelnen Männern, fragte sie sich. Wieso treffe ich mich nicht mit meiner Clique, mein Freund ist auch dabei, wir kennen uns schon lange und gehen in Gruppen nach Hause … Der Schulfreund hatte zu wenig Geld dabei, so dass er bloß einen Saft trinken konnte. Lara hatte irgendwie keine Lust, ihn einzuladen. Sie hätte es netter gefunden, wenn er das übernommen hätte. Wieso bin ich eigentlich so erwartungsvoll, fragte sie sich. Das Pärchen am Nebentisch blies ständig Rauch direkt zu ihnen herüber. Danach wollte er ihr seine neue Wohnung zeigen. Groß, leer, hell. Die Küche halb so groß wie das Schlafzimmer, mit einem enormen Esstisch zum Flachlegen, dachte Lara, ich bin so billig, dachte sie dann schnell hinterher, darüber ein Plakat mit verschiedenen Gemüsearten. Das Bad lang wie ein Flur. Hier hingen Kunstdrucke, lieblos an die Wand gepinnt. Das Foto seiner Freundin auf dem Nachttisch, aber ungerahmt, wie eine alte U-Bahnfahrkarte zwischen Zetteln, Taschentüchern, CDs. Sie setzten sich auf den Balkon, der eher ein Austritt war, und lauschten dem Gebläse der Lüftungsanlage des danebenliegenden Supermarkts. Das klänge wie Meer, fand er, beruhigend irgendwie. Sie aßen Fruchtbonbons und tranken Rotwein. Mehr hatte er angeblich nicht im Speiseschrank. Bis es auf einmal für Lara zu spät war, nach Hause zu fahren. Kannst ja bei mir übernachten, sagte er. Habe auch eine Luftmatratze. Ok, sagte Lara. Aber dann hatte er doch keine Luftmatratze, sondern Lara sollte mit ihm in seinem Bett schlafen. Unter der gleichen Decke. Sie war schon etwas beschwipst und spielte Risiko. Was könnte denn schon passieren, mit einem alten Schulfreund, der eine Freundin hat? Sie dachte kurz daran, dass sie ja auch einen Freund hatte. Und könnte ich mich wehren, wenn er irgendwas anfangen würde? Sie sagte sich: Klar, keine Angst. Er lieh ihr ein T-Shirt, unter dem ihre Brustwarzen abstanden. Sie legte sich schnell ins Bett, auf die äußerste Kante, und schlief natürlich sehr unruhig und wenig. Schwitzte. Träumte von leichten Fingerspitzen auf ihrem Bauch, einem Arm, der sie von hinten umschlang. Von feuchtem Atem inihrem Ohr und einer unbekannten Stimme. Um neun Uhr sprang sie auf und zog sich an. Er blieb liegen und sagte vieldeutig: Du hast schlecht geschlafen. Immer wenn ich mich bewegt habe, hast du dich auch bewegt. Wieso? Ich schlafe immer so, entgegnete Lara. Auf dem Heimweg kaufte sie in einem Drogeriemarkt ein neues Gesichtswaschgel. Das Auto fährt und fährt, keine Aussetzer. Lara will nicht schon von Anfang an aggressiv sein. Schließlich zeigte sogar ihr Vater Mitgefühl, als er ihr vor der Abreise einen Schein in die Hand drückte und sagte: Benzingeld. Auf der Fähre sind sie die Einzigen auf dem Oberdeck. Es ist sehr windig und ungemütlich, aber sie sagen sich: Wir lassen uns mal so richtig durchblasen. Und müssen darüber lachen – als ob der Wind schmutzige Gedanken hätte. Im Fährenrestaurant sitzen zu viele rüstige Pensionäre in gedeckten Farben, guten Muts, mit gesunder Gesichtsfarbe, die anhand von Inselführern ihre Unternehmungen planen. Die ihre Beziehungen in der Hand haben, wahrscheinlich mit silberner und goldener Hochzeit, mit silbernen und goldenen Ringen, und schönen Erinnerungen an die Jugend, als sie sich kennen gelernt haben, weil sie die Freundin seines besten Freundes war, man ging ja nicht so viel aus, man musste sich schnell entscheiden, das erste nette Mädchen, das man traf, hat man ausgeführt. Und das grüne Kleid, das sie auf ihrem ersten gemeinsamen Spaziergang trug, schenkte sie ihrer Enkeltochter zum Abiball. Die Jungen mögen das wieder heutzutage. Die frische Luft hinterlässt einen pelzigen Geschmack im Mund, vor allem beim Küssen, weil sie es dann versuchen, weil es doch früher ganz gut ging, besonders unter freiem Himmel. Sie sagen sich, der Versuch zählt, das Schiff stampft, Möwen kreischen, nach einer guten Stunde fahren sie wieder an Land. Als sie im ausgestorbenen Inselhafen ankommen, ist es schon dunkel, und sie laufen die Hauptstraße hoch und runter, weil sie denken, vielleicht bleiben wir einfach im erstbesten Inseldorf, wir schrauben mal unsere Ansprüche herunter, wir brauchen nur uns, wir brauchen keine idyllische Unterkunft, sondern einen Ort, an dem wir etwas überprüfen können, einen neutralen Ort, egal wo. Aber in der Hauptstraße sind nur Fischbuden, Souvenirgeschäfte, ein Supermarkt, ein Bäcker, ein Anglerladen und zwei Restaurants, die gemütliches Licht durch die Fenster verströmen. Wir können ja später wieder kommen, sagen sie sich. Im Moment fühlen sie sich ganz friedlich, die gemeinsame Unternehmung verbündet. Sie fahren über die Insel an reetgedeckten Häusern mit Steinskulpturen im Vorgarten und hölzernen Fensterläden vorbei und quartieren sich bei einem Ehepaar ein, nachdem sie vier Pensionen mit Zimmer-frei-Holzschild im Vorgarten besichtigt hatten und überall der gleiche staubige und frittierte Geruch in der Luft hing. Ein bisschen besonders soll es schon sein, oder?, sagte Lara. Von mir aus auch, sagte er. Sie stellen die Taschen provisorisch auf den Teppichboden, setzen sich kurz aufs weiche Bett, auf die rosenbedruckte Tagesdecke, auf einmal sitzen sie nebeneinander wie eben im Auto, aber es bringt wieder gar nichts. Er stellt den Fernseher an, aber da kommt nur Comedy. Zum Scherzen ist ihnen nicht zumute. Während ihr Freund im Bad ist, erinnert sich Lara an einedritte Dummheit. Die Party nebenan, ihr Nachbar feierte Geburtstag. Sie spielten Scharaden, Lara musste Kinderarbeit darstellen. Ab halb zwei nur noch sie und zwei seiner Freunde. Der eine etwas dicker und ruhiger: Ist Adorno noch wichtig für die Geisteswissenschaft? Und ja, Bruckners vierte Sinfonie! Über ihr ein Jawlensky-Poster, unter ihr ein großer Weinfleck mit Salzhaufen. Bevor sie ging, schmiss sie noch ein Glas um. Der Nachbar, klapprig und verwirrt, sagte: Zur Erinnerung. Eine Woche später kam ihr Freund zurück, er hatte ein paar Studienbekannte besucht, und weil Lara dachte, so kleine Geschichten, bei denen nichts passiert war, könnte sie ruhig erzählen, weil es immer noch besser sein müsste, ehrlich zu sein, als etwas zu verschweigen, was keine Bedeutung hatte. Er verstummte sofort und verließ die Wohnung. Sie hörte nur dieTür ins Schloss fallen. Später suchte sie ihn auf der Straße, in ein paar Cafés, die ihm gefielen, auf Parkbänken, aber er war nirgends zu sehen. Als sie wieder nach Hause ging, wartete er schon auf sie, mit einer Frage: Warum machst du so was? Und Lara hatte keine Antwort für ihn parat. Sie fühlte sich ihm gegenüber sehr schlecht. Sie hatte Gespräche gesucht und Begegnungen, sie hatte mehr als die immer gleichen traurigen Diskussionen und Enttäuschungen erleben wollen. Denke ich schon so negativ über uns?, überlegte Lara. Wie er da so saß, wollte sie ihn in den Arm nehmen, bei ihm bleiben, für immer, und alles vergessen, wieder nur an die Leberflecken auf seinen Oberarmen denken und an sein Stirnrunzeln, wenn sie etwas gekocht hatte, an seine Witze mit Fremden. Denn niemand anderes soll die Härchen auf meinem Po sehen, dachte Lara. Nur er. Im traditionellen Restaurant mit traditionellem Fischgericht begann dann aber schon ein traditioneller Streit über der Rechnung.
Die Insel liegt nicht gerade um die Ecke, beide müssen sich die Rettungsaktion etwas kosten lassen. Gerade im Endstadium komplexer Du-zu-Du-Verhältnisse spielt Geld eine wirklich signifikante Rolle. Der erste Streit wird nicht bis zum Knockout zu Ende gekämpft, weil Lara die Rechnung übernimmt. Sie will nicht alles am ersten Abend aufs Spiel setzen, sie ist noch guter Hoffnung und gibt sich loyal und kollegial. Nächstes Mal bist du dran, sagt sie. In einer Kneipe zwei Straßen weiter wollen sie mit einem Schnaps, es könnten auch zwei oder mehr werden, zünftig weiterfeiern, und sie könnten sich in die Arme fallen, um sich endlich mal wieder ihre Liebe zu gestehen, rauschhaft, versteht sich. Zwischen anderen besoffenen Urlaubern und Einheimischen und aufgetakelten Frauen versuchen sie, gute Laune zu entwickeln. Lara pustet die Bierpfützen auf dem Tisch hin und her. Lass das, sagt er. Spielkram. Sie erinnert sich an eine andere aufgetakelte Frau aus der jüngsten Vergangenheit. Er hatte von dieser Frau erzählt, die so auffällig bei einem Konzert immer in seine Richtung geblickt hatte, mit der er dann an der Bar zusammengestoßen wäre, die ihm ins Gesicht gesagt hatte, dass sie gerne mit ihm schlafen würde, nachdem er einfach bei ihr stehen geblieben war, mit der er dann die ganze Nacht getanzt hätte. Mehr wäre nicht passiert, sagte er damals, und als Lara verwirrt und ängstlich fragte: Wie, mehr nicht?, fing er an schallend zu lachen: Er wollte nur mal sehen, ob sie eifersüchtig sei. Wäre alles erlogen und so. Musst du gerade sagen, sagt sie deshalb, bin doch nicht dein Baby. Wir kennen einfach zu viele Leute, sagt er. Auch dieser rustikale Ort kann keine angenehme, zärtliche Atmosphäre herstellen. Lara wird wieder so wütend, wie neulich, als sie ihn in einer neuen schwarzen Jacke auf dem Markt traf. Er war eine Stunde zu spät. Sie wollten eigentlich etwas fürs Abendessen kaufen, ein paar Spezialitäten, aber Lara hatte schlechte Laune und hatte eigentlich einen französischen Film im Fernsehen sehen wollen, dessen Anfang sie jetzt schon verpasst hatte. Er dachte, er könnte abends bei ihr übernachten. Sie liefen schweigend von Marktstand zu Marktstand, nichts machte ihnen Appetit. Und dann verlor Lara auch noch ihren Geldbeutel. Er schaffte es nicht, sie zum Trost zu umarmen.
Mit seinen letzten Münzen kauften sie Baguette und irgendwelche Frischkäse-Cremes. Er brach sich immer wieder ein Stück vom Brot ab, kaute, konnte nicht sprechen. Ich habe auch Hunger, sagte Lara, und er riss ihr genervt ein Stückchen ab. Sobald sie in ihrem Zimmer am Tisch saßen und aßen, schmierte er auf alle Brote eine große Portion Ketchup. Als die Flasche leer war, nahm er chinesische Würzsoße. Später sagte er zu ihr, dass er mit Absicht schlechten Geschmack gezeigt hätte, weil er wollte, dass sie sich von ihm entferne. Als sie vor Müdigkeit gähnen, als sie wenigstens die Erschöpfung gemeinsam haben, brechen sie auf in die Pension.