
Marcus Roloff © www.gezett.de; Tiberiu Neacsu © Gombos Wilhelm Doru
Ein deutscher und ein rumänischer Dichter treten in einen Dialog miteinander, ausgehend von der Frage: „Was erfährt man während der Übersetzungsarbeit?” Marcus Roloff und Tiberiu Neacșu sprechen über das Auseinandersetzen mit fremden Texten.
Marcus Roloff: Text und Quelltext
Das Übersetzen – von Gedichten – beginnt zuweilen mit einer Stumpf- oder Stummheit, weil die Möglichkeit besteht, dass mir das erste Überschauen des zu Übersetzenden zunächst wenig sagt. Die Bruchstücke, die ich erkenne, sind wie Inseln in einem matten Gebräu oder Mosaiksteine eines fremden Bodenmusters, dessen komplettes Bild ich mir Wort für Wort, Zeile für Zeile erarbeiten muss, buchstäblich. Es kommt vor, dass das Ganze durch die blinden Flecken hindurchschimmert, dann ist die Erstellung einer deutschen Fassung geradezu (fast) nur Fleißarbeit. Oft schiele ich auf das Ende oder wenigstens die letzte Zeile, um vorwegzunehmen, worauf das Original zuläuft, und dieser Schwung, der im Ende ausschaukelt, erlaubt es mir, wenn ich es schnell genug erfasse, den Rest, die Stille des Noch-nicht-Erfassten nicht nur besser zu ertragen, sondern auch Stück für Stück im Sinne dieses alles erhellenden Endes zu entschlüsseln. Es ist ein Entschlüsselungs-, ein Erhellungsvorgang – der Sache nach dem Lektorieren verwandt, das ja ebenfalls ein Hineinknien in etwas Fremdes und Dunkles und letztlich auch Übersetzungsarbeit ist (wie möglicherweise alles Schreiben: Gedanken verschriftlichen = sie in die Kähne der Schrift aussetzen). Ich erfahre also dreierlei: die Anstrengung der ersten Überschau, die sich aufmacht, Ton- und Sachlage zu eruieren; die (eher routinierten) Freuden des Erstellens einer ersten Zielsprachenfassung, die lediglich die Lexik (r)überträgt, eins-zu-seins, wobei hier oft schon Entscheidungen in diese oder jene Richtung notwendig werden, Stichwort Mehrdeutigkeit; und schließlich die (echten) Freuden der Arbeit an der Kenntlichmachung dieser latent glanzlosen Fassung als eine mit Trademark, Eigenart, Handschrift, versehen mit eigenem Gütezeichen, Branding, dem eigenen Logo oder dem Logo des Eigenen. Ich betone das so, weil mich die Frage umtreibt, was einen guten Text ausmacht – nicht zuletzt auch den aus fremden Sprachquellen stammenden eigenen.
Tiberiu Neacșu:
Das Übersetzen eines jeden Textes setzt das Erlernen neuer Spielregeln voraus. Am Anfang ist man linkisch, unpräzise, man sucht den Kurzweg, um schließlich eine Strategie zu entwickeln, die das Ganze überschaubarer macht. Ich glaube, den Sinn eines Textes erfasst man erst bei wiederholter Lektüre, nachdem man die Bedeutungen hintereinander vertauscht und sich in den Text vertieft hat.
Die Gefühle, die man dabei erlebt, sind unterschiedlich: Entspannung bei der ersten Lektüre, Verbissenheit während der Übersetzungsarbeit, Besorgnis um das Noch-nicht-Erfasste, Verzweiflung angesichts der Verschlüsselung, Sicherheit der Wiedergabe, Angst vor Verrat.
Hinzu kommt die Enttäuschung, dass das zu Übersetzende noch weit entfernt ist von der endgültigen Form, oder vom Ton des Originaltextes.
Trotzdem glaube ich fest daran, dass das Übersetzen die ehrlischste Form der Lektüre ist.
Marcus Roloff, geboren 1973 in Neubrandenburg (Mecklenburg-Vorpommern), Lyriker und Übersetzer, lebt in Frankfurt am Main. Studium der Germanistik, Philosophie und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Literarische Veröffentlichungen seit 1997. Zuletzt erschienen: reinzeichnung (Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2015) und waldstücke (Gonzoverlag, Mainz 2017). Soeben erschien in der parasitenpresse (Köln) mit Klagelieder im Gepäck eine Auswahl von Gedichten des venezolanischen Dichters Rafael Cadenas, die er zusammen mit Geraldine Gutiérrez-Wienken erstmals ins Deutsche übertrug.
Tiberiu Neacșu ist Dichter und Übersetzer. Gedichte von ihm sind bereits auf Englisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Italienisch, Katalunisch erschienen. Er liebt Krautwickeln und die Gedichte von Frank Bidart.