
© Jan Böttcher
Ein Spaziergang, ein Reisebericht
Im Herbst letzten Jahres kam Jan Böttcher auf Einladung des Goethe-Institus Bukarest für eine Woche nach Rumänien, um rumänische Autorinnen und Autoren sowie Kulturschaffende zu treffen. Seine Eindrücke hat er in kürzeren oder längeren tagebuchartigen Einträgen gesammelt, die Sie im Folgenden nachlesen können.
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Und dann erreiche ich einen Bahnhof, 1944 von Amerikanern zerbombt, heute fest in der Hand von Coca Cola. Vor jedem Gleis eine Espressomaschine. Die Bahnsteige sind niedrig wie Bürgersteige. Mein Zug schleicht an Gleisarbeitertrupps vorbei. Mir gegenüber sitzen zwei alten Damen, kaufen ein eingeschweißtes Rätselheftpaket für 10 LEI. Die Fahrkartenkontrolleurin trägt ihren eigenen schwarzen Hut, keine Dienstmütze. Draußen versinkt die Walachei im Frühnebel. Neben mir liest ein Student im Notebook einen Text über die Handelsbeziehungen der rumänischen Holzindustrie. Ich schiele hinüber: „Die Methoden, mit denen die Performances evaluiert werden, sind zu unterschiedlich, um irgendein Urteil über die rumänische Holzindustrie erstellen zu können.“ Na dann. Würfelgeräusche. Hohe Erlenwälder. Die Damen essen Sandwich und telefonieren, und der Holzstudent spielt jetzt die Niederlande im Strategiespiel „Rise of Nation“. Die Geschwindigkeit, mit der er Entscheidungen für ein fremdes Land trifft, ist beängstigend, aber während der Nebel draußen immer dichter wird, erreichen die Niederlande das Zeitalter der Aufklärung. Wir halten an einem weiteren Bahnhof ohne Namen, ohne Uhr, ohne Ansage. Keinerlei Industrie mehr. In Campina bricht die Sonne durch. Ein ausgetrocknetes Flussbett. Südkarpaten. In Comarnic sitzt eine desinteressierte Bahnhofskatze unter einem güldenen Ortsschild. Der Student befindet sich in der Nähe von Edam, im Informationszeitalter, aber seine Air Base brennt, die Schrift sagt: „Your arrogant nation must be crushed before it’s too late.“ Aber das muss nicht stimmen. Ich nähere mich an, sammele schneebedeckte Berge ein und die Gänse in Timisul. Ein E-Werk, Friedhofshügel, Datschas, dann endlich der Händedruck, ich bin da, wir sind wieder ein Wir.
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Gehen und reden und unsere Rucksäcke schmeißen wir in der ‚Tipografia’ ab. Reden über die Schule von Brașov und den
Montagsclub in Bukarest. Über das Tauwetter und seine Privilegien. Über den Frost der Achtziger und die postmoderne Anthropologie. Als das rumänische Ich vorrückte. Über ein elitäres Verlagshaus, das immer seine eigenen Experten und Kritiker im Schlepptau hat. Über einen kleinen Verlag, der es nicht mal schafft, seinen unbezahlten Autoren ein paar Bücher zu schicken. Wir rütteln an der Schwarzen Kirche, aber sie ist bereits geschlossen. Nicht weit entfernt stoßen wir auf einen schmalen Gang, eine Sackgasse, die an einer Parfümerie vorbeiführt, links ein kroatisches Reisebüro, am hinteren Ende ein indisches Restaurant mit Pension, das aussieht, als würde man nach dem Essen nicht mehr herauskommen. Ich kann dich nicht zu einer Mahlzeit überreden.
Mit herzlichem Dank an Bogdan Cosa, Dan Sociu, Filip Florian, Mihai Duțescu, Lavinia Braniște, Gabriela Adameșteanu, Adrian Lăcătuș, Vlad Dragoi, Robert G. Elekes, Vlad Moldovan, Rareș Moldovan, Bogdan-Alexandru Stănescu, Andrei Dosa, Cosmina Moroșan, Ștefan Agopian.