Name: Marin Mălaicu-Hondrari
Geburtsdatum: 29.01.1971
Geburtsort: Sângeorz-Băi, Bistrița-Năsăud
Derzeitiger Wohnort: București
Veröffentlichungen: Zborul femeii pe deasupra bărbatului (poeme, Eikon, 2004), Cartea tuturor intențiilor (roman, Vinea, 2006; ediția a II-a, Cartea Românească, 2008), Apropierea (roman, Cartea Românească, 2010; ediția a II-a, Polirom, 2014), La două zile distanță (poeme, Charmides, 2011), Lunetistul (roman, Polirom, 2013), Războiul Mondial al Fumătorilor (roman, Polirom, 2015; ediția a II-a, Polirom, 2017).
DIE FALLE
Das Einzige, was mir jetzt noch übrig bleibt, ist zu versuchen meinen Weg zurückzuverfolgen, von einem fröhlichen, einfachen jungen Kerl bis hin zu dem verbissenen, launischen Mann, der ich jetzt bin. Manche werden sagen, dass es dazu gekommen ist, weil ich mit dem Trinken aufgehört habe, andere, weil ich nie geheiratet habe und wieder andere werden sagen, dass ich schon immer so war. Und sie?
Vor einigen Tagen war ich am Bahnhof, an dem Ort, an dem ich sie zum ersten Mal gesehen hatte. Es hat sich nicht viel verändert. Anstelle der Holzbänke sind im Warteraum Plastikstühle erschienen und der alte Kachelofen ist auch nicht mehr da. Wenn ich im Winter am Bahnhof ankam, lehnte ich mich morgens, um zehn nach vier, daran, bis siebzehn nach vier, als der Zug eintraf. Manchmal hatte er Verspätung, aber nicht länger als zehn Minuten. Dieser Zug war der wichtigste für unseren kleinen Kurort, denn damit kamen die Touristen an. Sie waren damals noch, anders als wir, die Einheimischen. Mein Vater arbeitete als Fahrer in dem einzigen öffentlichen Verkehrsmittel, das den Touristen zur Verfügung stand: ein kleiner Trecker, an dem zwei mit einer Plane abgedeckte Anhänger angeschlossen waren, darin viele Holzbänke. Auf jedem dieser Anhänger stand „Herzlich Willkommen“ und darunter jeweils ihre Namen: „Frieden 1“, beziehungsweise „Frieden 2“, geschrieben mit roter Farbe. Jeden Morgen fuhr ich mit, um den Touristen mit dem Gepäck zu helfen. Ich nahm im Anhänger einen Handwagen mit, denn es passierte oft, dass nicht alle Touristen mit ihren Koffern in die zwei Anhänger passten. Es waren aber auch nicht so viele übrig, dass es sich lohnte, dass mein Vater noch ein weiteres Mal fuhr, und dann schleppte ich das Gepäck mit meinem Handwagen auf vier Rädern bis zum Hotel. Manchmal ließ ich oben, auf dem Gepäckberg, auch noch einen Touristen sitzen. Mein Vater schimpfte dann jedes Mal mit mir: „Lass sie zu Fuß gehen. Sie haben doch Beine, sie können laufen“. Für mich war es ganz in Ordnung, sie mit dem Handwagen zu ziehen, denn dann verdiente ich doppelt. Einmal habe ich eine schwangere Frau geschleppt, die sich nicht mal bedankt hat, als ob ihr der große Bauch das Recht verschaffte, undankbar zu sein. Dazu furzte sie auch noch und stöhnte bei jedem Furz, als hätte sie starke Zahnschmerzen. Ein anderes Mal schleppte ich einen dicken Priester, der wie ein Sumo-Kämpfer in Trauerkleidung aussah. Mein Vater ärgerte sich sehr, als er erfuhr, dass er mir nichts bezahlt hatte und sagte: „Du hättest ihn runterschmeißen sollen, denn er hätte auch zu Fuß laufen können. Diese Popen machen ihr ganzes Leben lang nichts außer singen und rammeln.“ Mein Vater hatte ein loses Mundwerk und war ein ziemlich ordentlicher Trinker, aber ansonsten war er ein guter Mensch, fleißig und fröhlich, im Gegensatz zu meiner Mutter, die fast immer jemandem böse war. Zum Glück arbeitete ich zusammen mit meinem Vater und nicht mit meiner Mutter. Solange ich zurückdenken kann, war mein Vater Wächter. Erst für die Bahnhoflager, dann am Rathaus und schließlich wurde er Wächter des gemeinschaftlichen Parkplatzes der zwei Hotels aus der Ortschaft. Während der Ferien durfte ich dort mitarbeiten. Wir arbeiteten nur nachts und wechselten uns ab, eine Nacht ich, eine Nacht er. Unser Platz war in einem Häuschen bei der Einfahrt, darin hatten wir einen Tisch und einen Stuhl und während des Winters bekamen wir einen elektrischen Heizlüfter.
Eines nachts rief mich einer der Hotelwächter. Ich sah ihn auf mein Häuschen zukommen, hatte aber überhaupt keine Lust mit ihm zu reden, denn ich hatte mich am Parkplatzrand ins Gras gelegt. Dort schaute ich, mithilfe einer kleinen Taschenlampe, auf eine Karte der nördlichen Halbkugel und versuchte hinterher am Himmel Sternbilder zu entdecken. Wie jeder Anfänger im Bereich der Astronomie hatte ich den Großen Wagen und den Kleinen Wagen schnell entdeckt, die Kassiopeia allerdings nicht. Der Wächter blieb weiterhin vor der Tür des Häuschens stehen, also ging ich hin, um zu sehen, was er wollte. Er wurde von der Rezeption geschickt, um mir zu sagen, ich solle mit dem Handwagen zum Bahnhof gehen. „Was soll ich am Bahnhof? Um diese Uhrzeit hält dort doch kein Zug?“, fragte ich ihn. „Mag sein, dass kein Zug hält“, sagte er, sehr wohl wissend, dass es so war, „aber am Bahnhof ist ein Tourist, der wartet abgeholt zu werden. Er hat bei uns im Hotel angerufen. Los, geh, ich pass schon auf den Parkplatz auf.“ Ich packte den Handwagen, der hinter dem Häuschen stand und ging los. Letztendlich konnte mir ein Spaziergang nicht schaden, so ging auch die Nacht schneller vorüber, und mit ein bisschen Glück verdiente ich auch noch ein bisschen Kleingeld. Zu der Zeit war unser kleiner Kurort schon in Verfall geraten, sodass nach Mitternacht nicht einmal mehr die Hauptstraße beleuchtet wurde. Da waren nur zwei Glühlampen, die spukhaftes Licht verbreiteten, eine auf das Polizeirevier und die andere auf das Rathaus. Und trotzdem kamen weiterhin hunderte von Touristen angereist, nur immer weniger jüngere Leute und sie sahen auch nicht mehr wie Ausländer aus. Die Hotels schienen sich langsam in Heilstätten für Ältere und Kranke zu verwandeln, die sich erhofften, von dem mineralhaltigen Wasser geheilt zu werden. Sie hatten kein Interesse an irgendwelchen Freizeitaktivitäten, ihre einzigen Ansprüche richteten sich auf den Ernährungsplan und das Heilwasser.
Als ich am Bahnhof ankam, sah ich niemanden. Ich guckte von einer Seite zur anderen, danach warf ich einen Blick in den Warteraum, obwohl man hätte verrückt sein müssen, um sich im Sommer dort aufzuhalten, zwischen den heruntergekommenen Wänden, auf den einfachen hölzernen Bänken, die vor lauter im Laufe der Zeit angesetztem Dreck glänzten und wo auf dem Zementboden verschiedene Flecken aschgraue Inseln bildeten. Sie waren schon so ewig da, dass man den Eindruck hatte, sie wären zeitgleich mit dem Zement, wie ein misslungenes Muster, eingegossen worden. Ich überlegte, den Fahrdienstleiter zu fragen, ob er einen Touristen gesehen hatte, aber sein Büro, aus dem ein einziger farbiger Lichtstrahl nach Außen drang, lud nicht dazu ein, an der Tür zu klopfen. Dann sah ich einen Schatten, der sich in Richtung der Telefonkabine, am Ende des Bahnsteigs, bewegte. Ich schlug den gleichen Weg ein und wurde, je näher ich kam, umso verwunderter. Mit dem Rücken an der Telefonkabine gelehnt, saß auf einem metallischen Koffer eine junge Frau. Sie hatte ein langes Kleid an, in einem Grünton, der mir in der Halbfinsternis am Bahnsteig blass vorkam. Sie wartete. Sie wartete auf mich, obwohl sie zu mir sagte: „Ich bin die Frau, auf die du wartest“. Dann bat sie mich zu warten, bis sie ihre Zigarette zu Ende geraucht hätte. Ich entfernte mich um einige Schritte. Neben dem metallischen Koffer hatte sie noch einen schwarzen, größeren, aus Leder. In ihren nicht einmal schulterlangen Haaren glänzten kastanienbraune Farben. Als die Frau mich anschaute, zuckte ich zusammen, senkte den Blick zu ihren roten Sandalen, die die gleiche Farbe wie ihre Zehennägel hatten, und entfernte mich um noch einige Schritte, bis ich an das Ende des Bürgersteigs gelangte. Durch die dünne Sohle meiner Turnschuhe hindurch konnte ich das weiche Gras spüren, das zwischen den Zementpflastersteinen gewachsen war. Dann ging mir durch den Kopf, dass die Frau um solch eine Uhrzeit, an solch einem Bahnhof, nicht alleine sein konnte. Irgendjemand musste noch dort sein und konnte jede Sekunde auftauchen. Ich schaute hinter dem Bahnhof nach und entlang den Schienen, auf das Lager, dessen Kontur wie riesige Teerdünnen aussah, konnte aber keinen Menschen sehen. Und auch keinen Schatten. Man konnte nichts anderes hören als das mir so wohl bekannte Surren im Wasserspender, der neben der Holztafel, an dem der Fahrplan hing, stand. Und trotzdem verspürte ich die Anwesenheit eines verborgenen Etwas und befürchtete darüber hinaus, dass von jetzt auf gleich ein Geschrei ausbrechen würde. Das Gefühl, dass mich jemand am Bahnhof ausspähte, hielt weiterhin an, selbst, nachdem die Frau von mir verlangte, dass wir gehen und mir klar wurde, dass sie alleine war.
Vom Bahnhof bis zum Hotel waren es, wenn man die Hauptstraße entlang ging, um die zwei Kilometer; wenn man aber die schmalen Nebenstraßen nahm, war der Weg erheblich kürzer. Ich entschied mich für die Hauptstraße, denn sie war zumindest betoniert, der Handwagen knarzte weniger, als auf den ländlichen Steinwegen und die Frau musste nicht auf jeden ihrer Schritte achten. Noch nie zuvor hatte mir der Handwagen Sorgen bereitet, (das Knarzen hörte ich gar nicht mehr) und auf die Risse in der Straße und die Löcher darin hatte ich schon lange nicht mehr geachtet, bis zu jener Nacht, als es mir so vorkam, dass selbst ein entferntes Bellen der Frau, die mir in einem Abstand von einigen Schritten schweigsam folgte, Schaden zufügen könnte. Ab und zu wandte ich mich um, um mich zu versichern, dass sie nicht verschwunden war. Etwas von ihrer distanzierten, fast kühlen Art bewirkte, dass ich sie gleich liebgewann. Ich wünschte mir, dass sie mir erlaubt, mich um sie zu kümmern. Sie war groß, viel größer, als sie mir auf dem Metallkoffer sitzend, vorkam und sie schritt aufrecht, fast erstarrt, ihre Arme kaum am Körper bewegend, voran. Und trotzdem machte sie mir den Eindruck einer sehr zerbrechlichen Frau, vielleicht wegen ihrer großen Augen, ihrer dünnen Gelenke oder ihrer zarten Hände, die unmöglich gewaltsam werden könnten. Der Weg bis zum Hotel war halb Qual, halb Traum.
Erst als wir ins Foyer, ins volle Licht hereintraten konnte ich wahrhaftig feststellen, dass etwas ungewöhnlich Schönes an ihr war. Der Wächter wurde auch gleich auf sie aufmerksam. Es war unmöglich, sie zu übersehen. Zumindest hatte ich noch nie so eine Frau gesehen. Sie bat mich, ihr Gepäck vor das Zimmer 600 zu stellen und dann ging sie zur Rezeption. Während ich mit dem Aufzug in die sechste Etage fuhr, fragte ich mich, ob ich dort auf sie warten könnte, oder nur ihr Gepäck hinstellen und dann zurück nach unten fahren sollte. Ich war versucht, auf sie zu warten, aber nicht um das Geld, das mir zustand, von ihr zu bekommen – eigentlich hatte ich völlig vergessen, dass sie mich bezahlen musste, sondern um noch ein bisschen bei ihr zu bleiben, selbst wenn es nur eine Sekunde war. Am Ende hatte ich doch nicht ausreichend Mut, ich habe ihr die Koffer vor das Zimmer gestellt und bin sofort mit dem Aufzug nach unten gefahren. Ich hoffte, ich könnte ihr noch eine gute Nacht wünschen. Doch ich hatte den Eindruck, dass der Aufzug viel langsamer fuhr als sonst und sobald die Türen aufgingen, eilte ich ins Foyer. Dann schaute ich zur Rezeption, aber da war nur der Wächter, der sich mit der Rezeptionistin unterhielt. Sie lachten und ich stellte mir vor, dass sie über die Frau, die gerade eingezogen war, lachten und ich hasste sie dafür. Dann überlegte ich mir, dass sie über mich lachen und ich hasste sie noch mehr. Die sechs Sessel im Foyer sahen so aus, als hätte jahrelang niemand mehr darauf gesessen und der Flur, der zum Behandlungszentrum führte, schien direkt zu einem postatomaren Gebiet zu führen.
Ich brauchte auf nichts mehr zu warten also ging ich zum Häuschen, parkte den Handwagen dahinter und schlief dann mit dem Kopf auf dem Tisch ein. Bevor ich einnickte, dachte ich darüber nach, dass es gut gewesen wäre, wenn man durch die Fenster vom Zimmer 600 einen Blick auf den Parkplatz und nicht auf den Wald hinter dem Hotel gehabt hätte. Und abgesehen davon sagte ich mir noch, dass ich unbedingt, solange die Frau da war, Schläuche auf die Räder des Handwagens ziehen musste.
Um sieben Uhr morgens war meine Schicht zu Ende. Ich nahm den Wagen und versteckte ihn, wie immer unter dem Dock am Hotel. Dann ging ich nach Hause. Gegen drei Uhr am Nachmittag weckte mich meine Mutter, damit ich essen und auf den Schulhof gehen konnte, denn dort würden Hilfspakete verteilt werden, die einen Tag zuvor aus der Schweiz eingetroffen waren. Zwei LKWs voller Säcke und Kartons auf die die Einheimischen schwer hofften. Ich schämte mich hinzugehen, aber einer aus unserer Familie musste es tun. Und da mein Vater am Sensen war und meine Mutter im Garten die Gemüsebeete pflegen musste, blieb mir keine Wahl.
Aus dem Rumänischen von Manuela Klenke
Die gesamte Erzählung kann in dem Sammelband Dublă expunere, glesen werden, veröffentlicht 2015, im Trei Verlag

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