Filip Florians Literatur ist unvergleichlich. Bereits sein erster Roman „Degete mici” (2005) (
Kleine Finger erschien 2008 in der Übersetzung von Georg Aescht bei Suhrkamp) eroberte sowohl das Publikum als auch die Kritiker und wurde mit dem Preis für das beste Debüt der Zeitschrift
România literară (
Literarisches Rumänien), dem Exzellenzpreis für literarisches
Debüt der Uniunea Naţională a Patronatului Român (
Nationaler Rumänischer Arbeitgeberverband) und dem Preis für das beste Prosadebüt der Uniunea Scriitorilor (Rumänsicher Schriftstellerverband) ausgezeichnet. Seitdem wurde er diesen Auszeichnungen immer wieder aufs Neue gerecht, sagen die Kritiker. Jedes seiner veröffentlichten Bücher – sei es „Băiuțeii” (
Jungs), dass er vierhändig, gemeinsam mit seinem Bruder Matei Florian, schrieb, sei es „Zilele Regelui” (
Die Tage des Königs) oder „Toate bufnițele“ (
Alle Eulen, 2016 in der Übersetzung von Georg Aescht bei Matthes & Seitz erschienen) -, erhielt einen wichtigen Preis, gewann neue Leserkreise hinzu, wurde übersetzt. In Deutschland (aber auch in anderen Ländern) wurden seine Romane sehr gut aufgenommen und erhielten lobende Kritiken. Somit reiste Filip Florian häufig in den deutschsprachigen Raum, um seine Bücher vorzustellen, als Gast auf verschiedenen Veranstaltungen oder im Rahmen von Aufenthaltsstipendien.
Ihr Urgroßvater väterlicherseits war Ioan Slavici und der mütterlicherseits war ein Ingenieur, der unter anderem auch Deutsch sprach. Verbinden wir beides einmal und beginnen das Interview mit den deutschen Geschichten – sowohl fiktionalen wie realen – mit denen Sie aufgewachsen sind.
Ich bin tatsächlich mit ein paar deutschen Geschichten aufgewachsen, aber sie sind eigentlich gar nicht so bedeutend.
Eine wichtige Linie meiner Familie ist zwar Deutsch, aber das war im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, das heißt nur der Großvater meiner Mutter väterlicherseits, also mein Urgroßvater mütterlicherseits und die Mutter meines Vaters hatten einen hundertprozentig deutschen Großvater, so dass es sich seitdem immer wieder teilt, von 100% auf 50%, dann 25%, 12,5%, 6,25% und so weiter. Mein Sohn fragte mich vor ein paar Jahren danach. Und nachdem er gerechnet hatte und erfuhr, dass er, sagen wir, 1,33% deutsches Erbe in sich trägt, interessierte ihn das Thema nicht mehr.
Mein Großvater jedenfalls war sehr viel mehr mit der deutschen Kultur verbunden. Er ist im Grunde der einzige, der Slavici noch erlebte. Die anderen wurden erst nach seinem Tod geboren. Aber Slavici selbst hatte keine deutschen Wurzeln, sondern der Ehemann seiner Tochter.
Bevor Sie begannen zu schreiben, waren Sie fast zehn Jahre Journalist bei Cuvântul (Das Wort) und Korrespondent bei Radio Free Europe und der Deutschen Welle. Wie war die Atmosphäre in den jeweiligen Redaktionen in den neunziger Jahren und wie sehen Sie diese Zeit heute?
Am Anfang war es wirklich eine außerordentliche Atmosphäre, die ich mit großer Nostalgie betrachte, aber die leider nicht wiederholbar ist. Diese Atmosphäre basierte auf etwas sehr Echtem, Reinem, wahrscheinlich Romantischem. Es war eine Zeit, in der viele von uns dachten, dass sich die Dinge in diesem Land wieder zum Besseren für uns verändern können und dass wir etwas dafür tun können. Danach kam in jedem von uns eine Portion Egoismus auf. Bei dem einen weniger, bei dem anderen mehr, aber bei jedem von uns. Deshalb glaube ich nicht, dass sich diese Atmosphäre wiederherstellen lässt. Jedenfalls nicht das, was ich bei
Cuvântul erlebt habe. Das war damals eine sehr bedeutende Wochenzeitschrift – sowohl was die Auflage betraf als auch den Einfluss. Die Zeit dort gehört zur schönsten meines Lebens. Alle Kollegen kamen mehr oder weniger aus literarischen Kreisen, alle hatten den Traum, Prosa oder Lyrik zu schreiben, aber wir machten alle Journalismus aus vollem Herzen, denn wir glaubten, so verlange es der Moment. Es geschahen so große und schlimme Ungeheuerlichkeiten, dass uns Literatur vorkam wie überflüssiger Luxus, wie eine dekadente Perlenhaube, und das zumal ich damals noch keine Glatze hatte (wir lachen) – es war nicht die Zeit für Literatur, dafür passierten zu viele unvorstellbar schlimme Dinge. Wir waren alle besessen davon, das Land vom großen Ion Iliescu befreit zu sehen – ich gebe zu, dass diese Besessenheit bei mir über Jahre hin anhielt, bis mir klar wurde, dass möglicherweise auch in Abwesenheit von Iliescu nicht das Paradies auf Erden erreicht würde.
Welche Reportage, die Sie für die Deutsche Welle machten, blieb Ihnen noch lange im Gedächtnis?
Für die
Deutsche Welle habe ich vor allem politische Kommentare geschrieben. Das war meine letzte journalistische Station. Ich arbeitete in der rumänischen Abteilung der Deutschen Welle ungefähr von '95 bis '99. Morgens und abends musste ich ein oder zwei kurze Nachrichten schreiben, so zwischen acht und zwölf Zeilen, und ich hatte täglich eine Sendung von drei bis vier Minuten, einen Kommentar zum Thema des Tages, das zu 99,99% ein politisches war.
Diese Reportagen für
Cuvântul hängen auch in gewisser Weise mit
Radio Free Europe zusammen, als wir noch mehr Freiheiten hatten. Zum Beispiel war ich einmal im Winter im Donaudelta und machte eine Sendung von über einer Stunde im Reportage-Stil, keinen Kommentar. Die Zeit bei
Cuvântul war für mich eine perfekte Journalistenschule. Dort hatte man unglaubliche Freude am Schreiben, aber auch eine Art Konkurrenz, im besten Sinne des Wortes, nicht so mit Ellenbogen und Fallenstellen. Die Kollegen stachelten dich an, sie wollten, dass du etwas richtig Gutes machst, und wenn man bei anderen etwas Tolles sah, dann stimulierte einen das. Und jeder freute sich über die Erfolge der anderen. Aber das dauerte nur ein Jahr, ein Jahr und ein paar Monate.
Ich schrieb irgendwann einen langen Text, drei, vier Seiten für eine Zeitschrift, über Ion Iliescus Jugend, nachdem ich mit allen möglichen Leuten gesprochen hatte, die mit ihm zusammen gearbeitet hatten, zum Beispiel beim Nationalen Wasserrat, beim Technischen Verlag; ehemalige Kollegen aus verschiedenen Bereichen. Und ich versuchte, ein Porträt dieses Menschen zu erstellen, nicht aus dem, was man am Bildschirm sah oder irgendwo hörte, sondern aus dem, was die Menschen über ihn sagten, die ihn vorher gekannt hatten. Es kam trotzdem, glaube ich, ein Text heraus, der zu dem passte, was wir über ihn sahen und hörten. Zum Beispiel beim Technischen Verlag kam er an seinem Geburtstag mit der Gitarre und sang den Angestellten revolutionäre kommunistische Hymnen vor. Oder er reparierte selbst die Türklinken in der Redaktion. Aus solchen Kleinigkeiten – die am Ende literarische Qualitäten haben – entstand, glaube ich, ein ziemlich gutes Porträt.
Dann gab es noch eine Sache, die verbunden war mit einem mystischen Wahnsinn, der für große Furore sorgte in diesen Jahren: Cetatea Sfântă Noul Ierusalim (Die heilige Stätte Neues Jerusalem) in Pucioasa, eine Gruppe von Leuten, die in direktem Kontakt stand mit einem Gott, von dem sie ununterbrochen Eingebungen erhielten, die sie im Akkord aufschrieben, wie in der Armee, sie hielten Wache, um das Wort Gottes aufzuschreiben, wie am Fließband. Es war wie südamerikanische Prosa in Fleisch und Blut.
Eine weitere Geschichte, mit der ich mich sehr intensiv beschäftigt habe, war eine sehr umfangreiche Reihe, ich glaube, sie hieß „Schachpartie mit gefährlichen Verrückten“. In den letzten Jahren gab es ja, wie Sie wissen, offiziell keine politischen Gefangenen mehr und so erklärte man Menschen zu Psychiatriefällen. Während der Universiade, die '81 in Bukarest stattfand, sammelte der Rettungsdienst um die 800-900 Menschen ein und internierte sie bis zum Ende der Universiade, damit sie keine Möglichkeit hatten, sich öffentlich zu äußern, mit den westlichen Delegationen in Kontakt zu treten, zu protestieren und so weiter. Es ist eine erschütternde Geschichte. Viele Ärzte waren auf Geheiß der Securitate und der Partei in diese elende Geschichte verwickelt. Natürlich machten sie aus einigen dieser Ärzte danach große Mediziner.
Und dann hatte ich noch eine Reportage über Ceaușescus Flucht. Niemand wusste, was zwischen dem Zeitpunkt, als er vom Dach des Zentralkomitees der RKP geflohen war, und dem Moment seiner Verhaftung passiert war. Es entstand ein richtiger Film, mit verschiedensten Elementen, wie in einem Roman, von denen wir alle nichts gewusst hatten, lauter verrückte Sachen, auf Feldern, in Dörfern.
Die neunziger Jahre waren effektive Jahre, in denen man sich mit vollem Einsatz einbrachte, man ging auf die Barrikade im Journalismus. Es war nicht so, dass man sich seinen Lohn abholte und fertig.
Das habe ich in den letzten Wochen erlebt. Es erschien mir so, als ob die Journalisten wirklich versuchten im aktuellen politischen Kontext auf die Barrikade zu gehen.
Ja, so ist es, das kann man vergleichen.
Kleine Finger war vor zwölf Jahren ihr Debütroman. Seitdem wurden Sie in vierzehn Sprachen übersetzt – Englisch, Deutsch, Spanisch, Italienisch, Türkisch etc. Wie hat sich Ihre Art zu schreiben in all den Jahren verändert? Haben die vielen Übersetzungen Sie irgendwie beeinflusst?
Ich kann meine Hand dafür ins Feuer legen, dass die vielen Übersetzungen meine Art zu schreiben nicht beeinflusst haben, und ich glaube auch nicht, dass sie sie irgendwann beeinflussen werden. Ich bin sehr hart zu mir selbst, wenn mir nicht gefällt, was ich tue. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, dass meine Frau oder meine Mutter diese Seiten dann liest, geschweige denn jemand anderes. Ich zerstöre sie automatisch. Es gab also nichts, was mich hätte beeinflussen können, außer vielleicht mein eigener Geschmack. Kein Mensch bleibt – ob er das will oder nicht – auf der Stelle stehen. Ich will damit nicht unbedingt sagen, dass er sich weiterentwickelt, denn das würde, zumindest theoretisch, bedeuten, dass er sich zu etwas Besserem hinbewegt. Aber er verändert sich. Vielleicht bin ich dümmer oder klüger geworden, ich habe keine Ahnung. In jedem Fall bin ich in der Welt herumgekommen, habe Dinge gesehen und mich verändert. Ich bin mir bestimmter Etappen in meinem Leben bewusst. Implizit hat sich meine Vorliebe für eine bestimmte Art von Prosa verändert. Und es gibt noch etwas, das ich für sehr wichtig halte: Ich versuche bei jedem Buch mein Bestes zu geben, bis zum letzten Tropfen Energie, Blut ... was auch immer. Wenn das Buch fertig ist, bin ich so leer, so erschöpft, dass ich das Gefühl habe, ich bin nicht nur mit dem Thema, sondern auch mit dem Stil fertig. Weil ich alles gegeben habe, mehr ging nicht. Dann brauche ich einen großen Anreiz, etwas ganz anderes, für das nächste Buch, um mich neu in etwas verlieben zu können, nicht nur in ein Thema. Ich brauche auch einen rein technischen Anreiz. Ich muss mir beweisen: ich kann auch so sprechen, oder so, oder noch anders. Aber, ich wiederhole es, ich spreche nur so, wie es mir selbst gefällt. Darum glaube ich, wer sehr aufmerksam liest, kann erkennen, dass meine Bücher, zumindest in gewisser Weise, ziemlich unterschiedlich sind. Vielleicht täusche ich mich, ich weiß es nicht. Das Buch, an dem ich gerade arbeite ist jedenfalls hundertprozentig anders als alle anderen. Aber das ist alles, was ich darüber sagen kann. Nichts weiter.
Ich dachte mir schon, dass Sie nicht über das Buch sprechen möchten, an dem Sie gerade arbeiten.
Ja, es ist schwierig, jetzt darüber zu sprechen. Ich kann nur sagen, dass mir sehr gut gefällt, was ich tue. Ich fühle mich in diesem Buch bereits wie ein Fisch im Wasser.
Kommen wir zurück zu den Übersetzungen. Ich bin neugierig, ob Sie mit Ihren Übersetzern zusammen an den Texten arbeiten. Beispielsweise bei den Übersetzungen ins Deutsche. Georg Aescht übersetzte sowohl Degete mici (Kleine Finger), als auch Toate bufnițele (Alle Eulen), auch wenn sie in zwei verschiedenen Verlagen herauskamen: Suhrkamp und Matthes & Seitz.
Georg arbeitet jetzt an „Zilele Regelui” (
Die Tage des Königs). Er ist schon ziemlich weit, das Buch wird Ende des Jahres in Deutschland erscheinen.
Ernest Wichner hat einen einzigen meiner Texte übersetzt, eine Novelle von 25 bis 30 Buchseiten für eine Anthologie, die sich mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs beschäftigt. Er war von Anfang an Übersetzer dieses Buches.
Ich verstehe mich sehr, sehr gut mit beiden, wir sind Freunde und ich habe für sie nur Worte der Begeisterung und Dankbarkeit.
Um auf die Frage zu antworten: ja und nein. Natürlich arbeiten wir an den Texten zusammen, aber nur, wenn sie irgendwelche Übersetzungsprobleme haben. Was habe ich ansonsten in ihren Übersetzungen zu suchen? Meine Aufgabe ist erledigt, wenn ich das Buch fertig geschrieben habe. Meiner Ansicht nach ist eine Übersetzung sowieso eine Gemeinschaftsarbeit von Autor und Übersetzer. Der Übersetzer ist nicht nur so eine anonyme Figur im Schatten, er ist extrem wichtig für eine qualitativ hochwertige Übersetzung. Fünfzig Prozent eines in eine andere Sprache übersetzten Buches gehören im Grunde ausdrücklich ihm. So scheint es mir normal.
Letztes Jahr, als Sie Alle Eulen in Deutschland veröffentlichten, wurde gesagt, es sei „ein gewaltiges Buch“ (Paul Jandl, Die Welt), „ein Stück Weltliteratur“ (Jan Koneffke,Neue Zürcher Zeitung).
Im Dezember rief mich Ernest Wichner an, um mir zu sagen, ich solle mir die Zeitung kaufen, denn es gebe eine Umfrage, die mich interessieren würde. So erfuhr ich, dass "Die Welt"
Alle Eulen in die Top Ten der besten ausländischen Belletristik des Jahres aufgenommen hatte. Was mich zugegebenermaßen ziemlich sprachlos machte.
Ja, der Roman wurde extrem gut aufgenommen. Bei beiden Büchern hatten Sie dutzende enthusiastische Kritiken in Deutschland. Und wie Sie schon sagten, erscheint in diesem Jahr die Übersetzung von „Zilele Regelui” (Die Tage des Königs). Was glauben Sie, wie das Buch angenommen werden wird, vor allem die deutschen Figuren (der Zahnarzt Strauss, König Karl I. von Rumänien)?
Hand aufs Herz: ich bin sehr, sehr gespannt. Auch ich versuche, es mir vorzustellen. Alles ist möglich. Ich weiß es wirklich nicht. Es stimmt, zwei der zentralen Figuren sind Deutsche. Und sie sind nicht nur Deutsche, sondern ich habe außerdem versucht, in ihnen etwas Deutsches zu belassen, gerade damit sie in einer sehr klaren Beziehung stehen zu dem, was sie in Rumänien vorgefunden haben.
Alle haben sich gewundert, warum es nicht vor
Alle Eulen übersetzt worden ist, es ist fast ein Klischee. Es ging soweit, dass manche Kritiker gleich nach dem Erscheinen 2008 behaupteten, ich hätte es direkt für den deutschen Markt geschrieben, was eine Beleidigung und eine unvergleichliche Unverschämtheit war. Aber so ist es. Zu mehr sind manche Kritiker in Rumänien nicht in der Lage. Man kann nicht mehr von ihnen verlangen. Ich habe immer nur geschrieben, was mir in den Kram passte, mein ganzes Leben lang war ich nicht berechnend und werde es auch nicht sein. Mein Hauptinteresse gilt dem Schreiben. Und es ist so wunderbar zu schreiben, dass absolut nichts Anderes zählt – ob es übersetzt wird oder nicht, ob es gelesen wird oder nicht, diese Dinge sind vollkommen unbedeutend für die Freude im Moment des Schreibens.
Aber ich bin sehr gespannt, wie das Buch aufgenommen werden wird. Es kann sein, dass es mit einem empathischeren Blick betrachtet wird. Es kann aber auch das Gegenteil geschehen. Ich habe dafür kein Gespür.
Fällt es Ihnen schwer, zu einem Buch zurückzukehren, das vor langer Zeit veröffentlicht worden ist? Ich frage das im Kontext der Übersetzung, wenn Sie über ein Buch sprechen müssen, das gerade erst übersetzt worden ist, aber im Original bereits vor ein paar Jahren erschien.
Ja, ich verstehe die Frage, sie ist vollkommen berechtigt und ein wirkliches Problem. So ist es, du bist völlig raus aus diesem Buch, aus seinem Universum, in Dir ist es bereits aufgebraucht, nach einer bestimmten Zeit und wegen einer Übersetzung bist du nun gezwungen, noch einmal in das Buch einzutauchen. Die Menschen aus dem einen oder anderen Land lesen es, als wäre es sehr frisch. Darin ist etwas Seltsames und Bizarres, das gebe ich zu. Ich sagte das schon, ich habe keines meiner Bücher jemals noch einmal von vorn bis hinten durchgelesen. Aber bei öffentlichen Lesungen, die anlässlich einer neuen Übersetzung organisiert werden, muss ich Textstellen aus den Büchern vorlesen und dann bin ich selbst überrascht. Es kommt mir vor, als würde ich etwas lesen aus einem anderen Leben, etwas, das jemand anders geschrieben hat. Ich habe kein Näheverhältnis mehr zu dem jeweiligen Buch. Dieses Gefühl der Nähe hält maximal ein Jahr nach der Veröffentlichung an. Danach, vor allem, wenn man voller Elan in ein anderes Buch eingetaucht ist, hat man sich völlig von dem anderen getrennt und nimmt es wie ein neues Buch auf. Aber mir gefällt das. Es ist sehr schön mit Menschen über Bücher zu sprechen.
Sie sind einer der wenigen rumänischen Autoren, die einen Literaturagenten haben. Wie funktioniert das für Sie?
Ich habe keinen Agenten mehr. Simona Kessler war einige Jahre lang meine Literaturagentin, bis zu dem Moment, als "Toate bufnițele" (
Alle Eulen) erschien. Wir haben ein sehr gutes, anständiges Verhältnis, aber nicht mehr als Schriftsteller und Literaturagent. Wir haben die Zusammenarbeit auf meinen Wunsch hin eingestellt.
Wenn ich etwas zu diesem Thema sagen darf: Nachdem ich in all den Jahren ziemlich viel herumgekommen bin und mit verschiedenen Autoren in aller Welt gesprochen habe, ist mir klar geworden, dass die günstigste Situation die ist, einen guten und einflussreichen Agenten auf dem westlichen Markt zu haben, nicht hier in Rumänien, von wo aus man den westlichen Markt kaum überzeugen kann. Leider befindet sich, soweit ich weiß, kein rumänischer Autor in dieser Lage. Ich weiß zum Beispiel genau, in wie vielen Ländern mein Freund Attila Bartis übersetzt worden ist, bevor er einen Londoner Agenten hatte – einen sehr berühmten übrigens: Ed Victor Ltd. kümmert sich auch um die Gruppe U2. Ich glaube, Sie können sich vorstellen, was ich meine und welche Explosion es danach gab. Genauso war es auch bei György Dragomán, er war in drei, vier Ländern übersetzt worden, und dann wurde "A fehér király" (
Der weiße König) in vierzig Sprachen übersetzt und zum meistübersetzten Buch in der Geschichte der ungarischen Literatur. Sein amerikanischer Agent hatte furchtbar gekämpft für dieses Buch. Das wäre also das große Los: Wenn es wenigstens einigen rumänischen Autoren gelänge, einen Agenten dieses Kalibers zu haben, würden mit Sicherheit die Übersetzungen aus dem Boden sprießen wie Pilze nach dem Regen.
Sie sind mehrmals im deutschsprachigen Raum gewesen, um ihre Bücher vorzustellen, sie waren bei öffentlichen Lesungen, Diskussionen zu bestimmten Themen, Sie hatten Stipendien. Wie sehen Sie diesen Raum aus literarischer Perspektive? Was sind Ihrer Meinung nach die besten Methoden des deutschsprachigen Raums, Werbung für Bücher zu machen, die man auch in Rumänien anwenden könnte?
Ich glaube, wir sollten uns nicht vor dem Wort „kopieren“ scheuen. Es hat keinen Sinn, das Rad oder Amerika neu zu erfinden. Wenn es einfache und offensichtliche Erfolgsmodelle gibt, warum soll man die nicht einfach übernehmen und anwenden? Es gibt drei große und weit verbreitete Dinge in Deutschland, für die ich eine absolute Bewunderung hege. In erster Linie die Institution der öffentlichen Lesungen, die vielleicht die solideste in Europa ist, oder gar in der ganzen Welt. Die Mehrzahl der Schriftsteller lebt relativ gut davon und es gibt ein sehr beachtliches Publikum dafür. Viele Institutionen organisieren öffentliche Lesungen. Es geht nicht nur um die neun Literaturhäuser, sondern auch um Pubs und allmögliche andere Räume, und immer ist ein Honorar für den Schriftsteller inbegriffen. Es wird als normal angesehen, dass diese Lesungen Arbeit sind und ein Schriftsteller auf Dauer nicht nur freiwillige Arbeit aus Liebe zur Kunst leisten kann. Für die Leser sind öffentliche Lesungen die perfekte Gelegenheit, Autoren, die sie schätzen, kennen zu lernen. Ich verstehe nicht, warum wir bei dem Modell bleiben, das den Autor komplett außen vor lässt, in dem er seiner Arbeit nachgehen soll und die Welt liest vielleicht sein Buch. Auch bei uns ist der Erfolg offensichtlich, die wenigen Veranstaltungen dieser Art haben viel Publikum, das sieht man auch beim Internationalen Literaturfestival in Bukarest, beim Zyklus Straßenerzähler, den meine Frau seit einem Jahr organisiert, wo man keine Nadel mehr fallen lassen konnte: Es waren über 200 Menschen gekommen. Das Publikum ist da, aber man braucht jemanden, der diese Dinge organisiert. Jemanden, der versteht, dass Schriftsteller bezahlt werden müssen. Ich glaube, jedem ist klar, dass man im Theater oder im Kino eine Eintrittskarte kaufen muss. Es ist genau das Gleiche.
Viele sind der Meinung, dass das in Rumänien nicht funktionieren würde: Literaturveranstaltungen für die man bezahlen muss.
Gut, sollen sie es doch erst einmal versuchen. Ich bin überzeugt davon, dass es funktionieren würde.
Die nächste Sache, die in Deutschland wunderbar funktioniert, sind literarische Stipendien. Wie soll das Niveau einer Literatur steigen, wenn sie sich auf Leute stützt, die nur am Wochenende schreiben oder in der Freizeit, oder, ich weiß nicht, sollen sich Schriftsteller den Magen zunähen, damit sie nicht mehr essen, die Lippen zunähen, damit sie nicht mehr rauchen können und ihre Rechnungen verbrennen und den Verlegern Bücher schreiben, damit es denen gut geht? Man muss sich nur die persönliche Situation einiger Verleger ansehen. Man sieht vom Flieger aus, wie gut es ihnen geht, was sie für Villen und Autos haben und dann sehen sie sich die Lage einiger wichtiger rumänischer Autoren an, die für die Jungs in den Verlagen das Geld machen. Und es versteht keiner, dass es eine einfache und relativ billige Sache wäre, ihnen wenigstens ein Aufenthaltsstipendium zu geben. Eine Jury kann aus verschiedenen Romanprojekten, Kurzgeschichten oder Lyrik auswählen, und wenigstens für ein paar Monate haben ein paar Autoren Ruhe zum Schreiben und nicht Panik ums Überleben.
Es gibt ein paar Aufenthaltsstipendien in Iaşi, über FILIT. Das ist ein Anfang.
Ja, weil Dan Lungu, Florin Lăzărescu und Lucian Dan Teodorovici der gleichen Meinung sind wie ich. Wir hatten untereinander jahrelang diese Diskussion über Aufenthaltsstipendien. Und natürlich, als sie die Möglichkeit bekamen, das umzusetzen, haben sie es auch getan. Aber es wäre normal, dass auch der große Kulturminister und die Bürgermeister der Städte diese Dinge verstehen würden. Was kann es zum Beispiel die Stadt Bukarest kosten, so etwas auf die Beine zu stellen nach dem Modell von Zürich, Dresden oder Graz, also ein jährliches Stipendium, das sich „Stadtschreiber von Bukarest“ nennt? Die Stadt würde an Prestige gewinnen, weil dank ihr und eines Programms, das sie ins Leben gerufen hat, Schriftsteller ein paar sehr gute Bücher zu Ende schreiben würden. Aber das interessiert nicht, was zählt sind Stimmen und dass man Bier und Würstchen unter Freunden verteilt.
Schließlich die dritte meiner Meinung nach sehr gute und normale Sache, die in Deutschland die Literatur am Leben erhält und dazu führt, dass man in Deutschland liest, ist die Art und Weise, wie Rezensionen und Literaturkritiken geschrieben werden. Es gibt eine absolute Trennung zwischen der Ausbildung – den Fakultäten für Literaturwissenschaft – und der Institution der Rezension in wichtigen Zeitungen, im Radio oder im Fernsehen. Bei uns überschneiden sie sich total. Wissenschaftliche Mitarbeiter verschiedener Fakultäten schreiben auch Rezensionen und dies auf sehr didaktische und schrecklich langweilige Art und Weise. Aber Literatur ist etwas Reines, Natürliches. In Deutschland wird ein Buch immer genommen, um darin das Gute, Schöne – eine Energie – zu finden, dann wird es den Menschen erklärt, um zu sehen, ob sie diese Art der Unterhaltung interessiert oder nicht, ob sie das Buch kaufen möchten oder nicht. Bei uns wird das Buch entzaubert, es wird versucht zu zeigen, was der Autor sagen wollte, wie er es aufgebaut hat usw. Wen interessiert das? Es ist schade für das Lesen und für die Leser. Seit Jahren bin ich überzeugt davon, dass kein Leser, der noch alle Sinne beieinander hat, Rezensionen liest, bevor er sich ein Buch kauft. Vielleicht liest er im Internet, in den neuentstandenen Blogs, die viel lebendiger und ehrlicher sind und nach diesem westlichen Prinzip funktionieren. Aber wer kauft noch ein Buch, weil er darüber in "România literară" (
Literarisches Rumänien) gelesen hat? Nicht einmal 0,0001%.
Letztes Jahr waren Sie zum ersten Mal auch auf der Leipziger Buchmesse. Was sind Ihrer Meinung nach die deutlichsten Unterschiede zwischen deutschen und rumänischen Buchmessen?
Ich komme zurück auf die Freude an der Beziehung zwischen Leser und Autor. In Deutschland ist es das Hauptziel, den Menschen eine Freude zu machen, Bücher wie ein wunderbares Geschenk darzubieten, nicht ihnen das Geld mit Gewalt aus der Tasche zu ziehen. Es ist keine Messe sondern ein Fest, man könnte es ruhig in gewisser Weise „Leipziger Fest“ nennen und auch in Frankfurt ist das so, auch wenn dort der Akzent stärker auf dem Buchgeschäft liegt. Aber in Leipzig ist es ein Karneval der Bücher, die Menschen kommen aus voller Überzeugung und jeder kann nach seinem Geschmack wählen. Die Stadt ist die ganze Messe über voller Menschen, Leser kommen aus allen Ecken Deutschlands.
Ich wiederhole es, Literatur ist kein kostspieliger Bereich. Mich überrascht, dass wir Gelder auftreiben für die Produktion eines Films, aber wir haben keine zehn bis zwanzig tausend Euro für Literatur, für ein paar Aufenthaltsstipendien, für zwei, drei Programme mit öffentlichen Lesungen, die garantiert funktionieren würden. Es würden hunderte Menschen kommen, wenn man Autoren einlädt, die das Publikum liebt, natürlich nicht, wenn es der Schwager des Jury-Vorsitzenden ist.
Welche rumänischen Autoren oder Autoren anderer Nationalitäten sollten Ihrer Meinung nach zukünftig ins Deutsche übersetzt werden?
Es fällt mir schwer, über andere Autoren zu sprechen. Aber ich würde sagen, der deutschsprachige literarische Raum ist der intelligenteste, weil er überhaupt nicht geschlossen ist – wie zum Beispiel der amerikanische oder britische. Er ist am neugierigsten von den wichtigsten weltweiten literarischen Räumen, so dass ich glaube, dass alle wichtigen Autoren aus Rumänien und anderen Ländern früher oder später ins Deutsche übersetzt werden.
Unsere Situation ist aus zwei Gründen eine besondere, würde ich sagen. Zum einen auf Grund der Geschichte. Ceaușescus Rumänien war ein schwarzer Fleck, ein geschlossenes Land, mit einer unsichtbaren Mauer. Niemanden interessierte, was hinter der Mauer, also in Rumänien, passierte. Und aus Rumänien konnte nichts nach außen dringen, und so hatten einige wirklich außergewöhnliche Bücher, die in jener Zeit geschrieben worden sind, das furchtbare Pech, nicht zu Bekanntheit zu gelangen. Das ist sehr traurig. Ich träume davon, dass wenigstens zwei, drei Bücher von Ștefan Agopian und wenigstens der Zyklus "Supraviețuiri" (
Überleben) übersetzt würden. Und ich lege die Hand dafür ins Feuer, dass sie einen außerordentlichen Erfolg haben werden, wenigstens was die Anerkennung angeht, wenn schon nicht in Bezug auf die Verkaufszahlen. Sie werden viele in Staunen versetzen. Aber wir kommen zu einem anderen dummen Punkt auf dem Büchermarkt, nämlich dazu, dass Verleger leider junge Autoren bevorzugen, weil sie denken, dass sie sie aufbauen können, Buch für Buch. Sie können sie zu bestimmten Veranstaltungen einladen etc. Wenn der Autor bereits älter ist, kann er nicht mehr zu Lesungen und Festivals kommen, und die Verleger sind entsprechend zurückhaltend, was vollkommen dumm ist. Ein Schriftsteller ist doch kein Stürmer einer Fußballmannschaft. Beim Fußball verstehe ich, dass man keinen fünfzigjährigen Stürmer einsetzt, aber in der Literatur ...
Und der zweite Grund ist, dass wir nicht in der Lage sind zu zeigen, was wir Gutes zu bieten haben. Kein rumänischer Autor hat einen starken westlichen Literaturagenten. Die Institutionen, die sich um rumänische Literatur kümmern, fabrizieren Kurzschlüsse. Bestimmte Dinge, die funktioniert haben, machen sie nicht, weil sie sich von Vergangenem unterscheiden wollen – zum Beispiel beim Rumänischen Kulturinstitut, das sehr gut funktionierte zu Patapievicis Zeiten. Und so ist es immer: Dinge, die nicht funktionieren, schaden der rumänischen Literatur und ihrer Sichtbarkeit auf internationaler Ebene. Ich komme auf die Sache mit den Aufenthaltsstipendien zurück. Nehmen sie zehn rumänische Autoren, die ihnen gefallen, und sie werden sehen, sie alle hatten Aufenthaltsstipendien im Westen, keiner davon in Rumänien. Das ist himmelschreiend. Wir sind das einzige Land in Europa, in dem so etwas möglich ist. Albanien vergibt Aufenthaltsstipendien, Mazedonien, Kosovo, Bosnien, Länder also, von denen man nicht behaupten kann, dass sie vor Reichtum strotzen. Und dennoch vergeben sie Aufenthaltsstipendien. Ich denke, dass das Bild von ihnen nicht so wäre ohne diese Dinge. Wir aber malen Blätter, die Nationalsymbole sein sollen, die Millionen von Euro kosten, obwohl man mit zehn bis zwanzig tausend Euro ein Ansehen erreichen könnte, das einhundert Mal größer ist.
Welche zeitgenössischen deutschen Autoren lesen Sie mit Vergnügen?
Das ist eine ziemlich schwere Frage. (Wir lachen) Meine Beziehung zu Fremdsprachen ist relativ schlecht. Ich spreche mittelmäßiges Englisch, mit dem ich einigermaßen zurechtkomme, ein noch mittelmäßigeres Spanisch und überhaupt kein Deutsch. Ich bin also völlig abhängig von den Übersetzungen ins Rumänische. Und da liegt das Problem. Ich glaube, in Rumänien wird wenig zeitgenössische deutsche Literatur übersetzt und das, was übersetzt wird, erscheint vier, fünf Jahre nach einem großen Erfolg. Es fällt mir also schwer zu antworten, ich habe keine lebendigen Anhaltspunkte, ich lese nicht so viel, wie ich gern würde.
Übersetzung aus dem Rumänischen: Julia Richter