Ioana Pârvulescu ist eine der beliebtesten rumänischen SchriftstellerInnen. Achtzehn Jahre lang war sie Redakteurin bei der Zeitschrift
România literară (
Literarisches Rumänien), sie initiierte und leitete beim Verlag Humanitas die Reihe
Cartea de pe noptieră (
Buch auf dem Nachttisch), war Literaturkritikerin, publizierte Romane, Essays und Gedichte, veröffentlichte in verschiedenen Anthologien und übersetzte Autoren wie Angelus Silesius, Maurice Nadeau, Rainer Maria Rilke, Milan Kundera und andere ins Rumänische. 2013 erhielt sie den Preis der Europäischen Union für Literatur. Ihr neuestes Buch trägt den Titel
Inocenții (
Die Unschuldigen) und ist 2016 bei Humanitas erschienen.
Die fünf Fragen an Ioana Pârvulescu drehen sich um das Interesse der Schriftstellerin für deutsche Literatur und deutschsprachige Autoren sowie um ihre Erfahrung mit dem deutschsprachigen Kulturraum. Lesen Sie hier ihre Antworten.
Sie haben Ihre Diplomarbeit über Thomas Mann geschrieben. Wenn Sie, wie die Figuren in Ihren Texten, eine Zeitreise machen könnten, wie stellen Sie sich ein Treffen mit ihm vor?
Ich würde ein Treffen in der Belle Époque wählen, sagen wir 1906. Es sind fünf Jahre vergangen, seitdem Thomas Mann mit großem Erfolg die
Buddenbrooks veröffentlichte. Seitdem hat er geheiratet und das (1905 bei Langenscheidt erschienene) Buch
Ein Fürst der Diebe.
Memorien gelesen. Der Autor ist Rumäne, George Manolescu, ein genialer internationaler Betrüger. Bei einem Besuch bei der Familie Mann, bei dem uns Katia Mann Tee und Kuchen serviert, würde ich ihm sagen, dass ich Rumänin aus Siebenbürgen bin und dass ich in der Zeitung
Adevărul, die ich aus Bukarest bekommen habe, im Feuilleton einen Artikel über die Geschichte des Betrügers gelesen habe. Thomas Mann hat einen Ordner mit Zeitungsausschnitten über alle möglichen Scharlatane. Er würde mir, überrascht von dem Zufall, sagen, dass er darüber nachdenkt einen Roman über das Thema zu schreiben. „Aber es wäre eine sympathische Figur“, würde ich sagen, „wie wäre es, wenn Sie ihn Felix nennen?“ „Hm, das ist kein schlechter Name, mir gefällt sein lateinischer Klang, vielleicht würde ich ihn mit einem deutschen kombinieren, zum Beispiel Felix Krull“, würde der junge Schriftsteller antworten. Und danach, kurz bevor ich mich verabschiede, würde ich mit großer Bestimmtheit sagen, dass ich, obwohl seit dem ersten Nobelpreis für Literatur, der an Monsieur Sully Prudhomme ging, erst fünf Jahre vergangen sind, genau weiß, dass eines schönen Tages auch er, Herr Thomas Mann, ihn bekommen wird. Ich würde sehen, wie er darüber nachdenkt und schnell verschwinden, in die Zeit, aus der ich gekommen bin.
Sie haben Gedichtbände zweier deutscher Dichter übersetzt: Angelus Silesius (Cherubinischer Wandersmann, erschienen unter dem Titel Călătorul heruvimic, Humanitas, 1999) und Rainer Maria Rilke (Îngerul păzitor - Schutzengel, Humanitas, 2007). Warum diese Bücher und wie haben Sie an den Übersetzungen gearbeitet? Gibt es einen zeitgenössischen deutschen Dichter, den Sie gern ins Rumänische übersetzen würden, wofür Sie bisher aber noch keine Zeit hatten?
Die Geschichte mit Angelus Silesius ist länger. Im Regal am Kopfende meines Bettes stand eine Anthologie deutscher Gedichte meines Großvaters, in der es auch ein Gedicht von ihm gab. Dort las ich folgende Verse: „
Ich weiß nicht, was ich bin; Ich bin nicht, was ich weiß://Ein Ding und nit ein Ding, ein Stüpfchen und ein Kreiß.” Ich ging die Straße entlang und erwischte mich bei dem Versuch, das zu übersetzen. Dann habe ich versucht, mehr über den Dichter mit dem Engelsnamen herauszufinden und stellte fest, dass er in Rumänien völlig unbekannt war, obwohl er einen beachtlichen Einfluss auf die westliche Kultur gehabt hatte. Ich schlug daraufhin dem New Europe College ein Projekt über ihn vor.
Rilke begleitete mich mein Leben lang, aber er rückte erst in den Vordergrund, als ich Angelus Silesius übersetzte. Es ist eine Auswahl von Gedichten, in denen es um Engel geht. Bei beiden Übersetzungen arbeitete ich mit enormer Leidenschaft und sie erschienen mir sehr schwer, aber auch sehr schön. Beide Dichter sind so „einfach“, dass sie unverstanden bleiben, wie Nichita Stănescu sagte. Was die zeitgenössischen Autoren angeht: ja, ich hätte zwei: Jan Koneffke (er schreibt auch Prosa, die bereits ins Rumänische übersetzt wurde) und Heinrich Detering (der auch Essayist und Thomas-Mann-Spezialist ist).
2015 haben Sie auf Einladung des Kulturministeriums an der Buchmesse in Leipzig teilgenommen. Wenn es mich nicht täuscht, übersetzte damals Aranca Munteanu für Traduki ein paar Fragmente aus Viaţa începe vineri (Das Leben beginnt am Freitag, Humanitas, 2009). Wie war es in Leipzig?
Ich kam begeistert aus Leipzig zurück und erinnere mich, dass ich mit meinen Studierenden aus dem Master Verlagswesen darüber sprach. Ich zeigte ihnen Fotos, die ich gemacht hatte. Das große Ereignis auf der Buchmesse war die Vorstellung des Romans
Judas von Amos Oz, den ich mir kaufte und den ich zuerst auf Deutsch las, um ihn dann in rumänischer Übersetzung bei Humanitas Fiction herauszubringen. Auch Heinrich Detering kaufte ich mir dort. Das Beste in Leipzig war für mich, dass auch Kinder und Jugendliche zum Lesen angeregt werden. So war zum Beispiel der Eintritt für diejenigen frei, die als literarische Figur verkleidet kamen.
Welchen Autor oder welches Buch, das in der wunderbaren Reihe
Buch auf dem Nachttisch bei Humanitas erschienen ist, würden Sie jedem zu jeder Zeit empfehlen?
Alle, die ich veröffentlicht habe. Genannt seien dennoch Siegfried Lenz
Arnes Nachlaß, wunderbar übersetzt von Alexandru Şahighian,
Das Parfüm von Süskind, in der außerordentlichen Übersetzung von Grete Tartler, Martin Walser, Musil mit
Die Verwirrungen des Zöglings Törleß oder Franz Werfel mit
Der Abituriententag.
Welches Ihrer Bücher, glauben Sie, wäre am besten geeignet für deutsche Leser und warum?
Ich denke, der neuste Roman,
Inocenţii (
Die Unschuldigen). Zunächst einmal, weil es in Braşov spielt, einer Stadt mit einer deutschsprachigen Minderheit, die in meiner Kindheit noch ziemlich spürbar war und die im Roman präsent ist. Es taucht zum Beispiel die Geschichte Willi Hahners auf, der nach dem Zweiten Weltkrieg in den Donbass deportiert worden war und von dort geflohen ist. Eine Geschichte, die mir unsere Nachbarn erzählten, die also vollkommen authentisch ist. Aber auch stilistisch ist der Roman, glaube ich, sehr angenehm für einen Übersetzer. Er ist scheinbar einfach, weil die Erzählerin ein kleines Mädchen ist und gleichzeitig ist er voll Spielfreude und Spannung.
Übersetzung aus dem Rumänischen von Julia Richter