Wie schreibt ihr eigentlich, Jan Koneffke und Vlad Zografi?
Jan Koneffke: Es hängt sehr viel davon ab, was es ist. Ich bediene ja einige Gattungen wie die Lyrik, den Roman, den Essay, Rezensionen, Artikel, Hörfunkgeschichten. Ein Gedicht, zum Beispiel, kann von einem Moment auf den anderen auf dem Papier enden. Es kann aber auch sein, dass man Ideen sammelt. Gedichte gehen bei mir, normalerweise, von einer Verszeile aus, manchmal auch von einem Wort. Es kann sein, dass sie sehr lange liegen, bis sie fertig sind und dass ich mich immer wieder ihnen zuwende. Es gibt natürlich Phasen, in denen man eher Lyrik schreiben will und solche, in denen man Romane schreibt. Romane funktionieren schon so, dass man sich morgens an den Schreibtisch setzt und schreibt, denn man hat ja eine Vorstellung davon, was man will, es gibt eine Geschichte, es gibt Figuren. Für "Die sieben Leben des Felix Kannmacher" hatte ich, zum Beispiel, ein sehr genaues Konzept, das 30 Seiten umfasste. Es war, glaube ich, das Buch, das ich am stärksten im Voraus planen konnte. Ich hatte den roten Faden, Figuren, Ereignisse und ich habe das fast abgearbeitet. Dieser ist auch einer der Romane, den ich am schnellsten geschrieben habe, innerhalb von zehn Monaten. Es geschieht auch, dass die Geschichte ihr Eigenleben entwickelt und sie zu deinem Vormund wird und von dir verlangt, auf diese Weise weitergeführt zu werden. Auch die Figuren werden zu Vormünder des Autors, sie werden dominant, sei es durch eine Stimmigkeit der Geschichte, der man nachgehen muss, sei es durch ihren Charakter, der einen bestimmten Sprachgestus verlangt. Felix Kannmacher oder Andrei Cricoveanu in Vlads Buch können nicht plötzlich von einem Sprachgestus zum anderen springen, ohne dass ein sehr merkwürdiger Bruch dabei entsteht. Der Roman setzt also voraus, dass man sehr viel Zeit in ihn investiert. Ich glaube nicht, dass man einen Roman drei Jahre liegen lassen kann, um dann weiter zu schreiben. Man braucht schon eine starke Kontinuität.
Vlad Zografi: In dieser Hinsicht liegen wir auf der gleichen Wellenlänge. Da ich mir aber nur selten Zeit fürs Schreiben nehmen kann, muss ich abwarten. So sammeln sich Gedanken und Ideen an, die ich mir immer wieder aufschreibe. Wenn ich Ideen sage, klingt das sehr abstrakt, aber eigentlich sind sie sehr konkret und von einer heftigen Subjektivität geprägt. Diese häufen sich an und der Kern wächst und wächst, saugt andere Gedanken-Nuklei auf und daraus ensteht ein Konstrukt, auf dem ich weiterbauen kann. So habe ich zum Beispiel meine Theaterstücke geschrieben. Ich bin immer von Gedanken ausgegangen, die dann andere Gedanken nach sich gezogen haben, bis aus der Verdichtung ein Stück entstanden ist. So ähnlich ging es mir auch mit dem Roman "Efectele secundare ale vieții" (Die Nebenwirkungen des Lebens), der Ideen enthält, die ich seit zehn Jahren mit mir herumtrage. Diese Ideen waren also da und ich habe dann gemerkt, dass sich daraus ein möglicher Roman entwickeln könnte. Ich habe aber von Anfang an gewusst, wie ich den Roman beenden werde. Das letzte Kapitel habe ich mit einer diabolischen Präzision vorausgeplant. Sonst ist alles - abgesehen von einigen Leitideen, denen ich nachgegangen bin - reine Erfindung. Mehr noch, jeden Abend habe ich mir überlegt, was ich am nächsten Tag schreiben werde. Da ich dabei im Alltag verfangen war, tauchen im Roman Ereignisse wie die Terroranschläge in Paris oder Brüssel auf. Es ist ähnlich wie beim Kuchenbacken - man hat den Teig auf dem Tisch, aber auch andere Zutaten, die man nach Lust und Laune dazugibt. So habe ich den Alltag in meinen Roman einfließen lassen. Es gab den Kerngedanken, den ich seit Jahren mit mir herumtrug, aber alles andere hat sich im Laufe der Zeit und während des Schreibens ergeben. Es gibt also Situationen, mit denen ich gar nicht gerechnet habe. Die Figuren waren hingegen, zum größten Teil, festgelegt.
Eine der Stimmen in deinem Roman ist die eines Autisten. Wie bist du auf diese Figur gekommen?
Vlad Zografi: Ich hatte schon längst mit der Idee gespielt, aus der Perspektive einer Figur zu erzählen, die anders denkt, als wir es gewohnt sind. Warum das? Meistens reagieren wir automatisch auf Dinge, die unseren Alltag bestimmen und wir fragen uns gar nicht mehr, warum wir das tun, was wir tun. Eine Person, die anders denkt, stößt eher auf die banalen Fragen des Lebens und ist entrüstet. Wir stellen diese Fragen nicht mehr, weil wir in gewisser Weise abgestumpft sind. Ich wollte also sehen, wie es ist, die Welt mit den Augen eines Menschen zu betrachten, für den die Dinge, die uns banal vorkommen, gar nicht so selbstverständlich sind. Die Hinterfragung der gewohnten Sichtweisen hat mich also in erster Reihe interessiert. Dass ich einen Autisten gewählt habe, hat sich so ergeben. Anfangs habe ich an einen Verrückten gedacht. Der erste geheime Titel meines Buches war ja auch "Der Blick eines Verrückten auf die Welt". Mit verrückt meinte ich keineswegs einen Geisteskranken, vielmehr eine Person, die die Welt anders sieht. Es hatte also nichts Negatives, ganz im Gegenteil, ich empfand eine enorme Empathie gegenüber dieser Person. Ich musste aber gleichzeitig einsehen, dass diese Einzelperspektive den Kontrapunkt des Lebens ausschließt und das Ganze nicht nur eintönig erscheinen lässt, sondern auch fälscht. So habe ich dann mehrere Stimmen eingesetzt und dadurch ist ein polyphonischer Roman entstanden.
Jan Koneffke: Ich muss dazu sagen, es ist unheimlich schwer, verschiedene Stimmen überzeugend durchzuführen, so dass man verschiedene Charaktere vor Augen hat, aber es ist Vlad sehr gut gelungen, eben diese Polyphonie zu gestalten. Und er hat gleich mehrere Textsorten im Roman eingeflochten. Es gibt Monologe, Selbstvergewisserungen, manchmal klingt das Ganze wie ein Tagebuch, manchmal wie ein Selbstgespräch, es gibt auch die Textform des Kommentars durch die Journalistin Nadia, die Lesermeinungen, die Akademierede von Papadopol und es gibt vor allem Robi. Das ist die absolut überzeugendste Stimme des Romans. Ich habe das Gefühl gehabt, zum ersten Mal verstanden zu haben, wie ein Autist vielleicht denkt. Natürlich ist das eine Kunstfigur, man hat aber das Gefühl, man ist so nah an diesem Robi dran, dass das Anormale auch wieder ganz normal wird. Dann kommt aber der Blick von draußen, zum Beispiel von seiner Schwester, und dann merkt man, dass er doch eben stumm ist, am Tisch sitzt und nicht reagiert und dass es doch einen Bruch mit der Welt gibt. Das ist sehr schön durchgeführt. Es ist ein Roman über unsere Gegenwart, nicht nur weil Attentate darin auftauchen - das gehört eher zu der Atmosphäre. Aber es zeigt Charaktere von heute. Es ist ein rumänischer Roman, in dem es auch um den heutigen Wissensstand geht und das ist wiederum universal. Vlad hat bewiesen, dass er kontinuierlich daran geschrieben hat. Das merkt man dem Buch wirklich an. Es hat diesen unglaublichen Zug, es zieht dich auch als Leser rein und du willst ans Ende kommen, ein Ende das - ich muss sagen- sehr traurig ist. Auch sonst ist es ein ganz trauriger Roman, obwohl er auch sehr lustig ist an vielen Stellen. Es gibt einen schönen Satz von Theodor W. Adorno "Der Schritt aus Trauer in Trost ist nicht der größte sondern der kleinste." So kam mir das auch im Roman von Vlad vor.
Vlad Zografi: Ich möchte etwas zu dem Fragment sagen, das Jan vorgelesen hat. Aber das gilt auch für seinen Roman "Die sieben Leben des Felix Kannmacher". Was ich an Jan besonders beeindruckend finde ist sein hervorragendes Talent, Geschichten zu erfinden. Seine Geschichten enthalten etwas Phantastisches, gemischt mit Ironie, aber auch mit einer gewissen Tragik. Es ist nicht die üppige Phantastik der lateinamerikanischen Literatur, die wie ein Dschungel ausartet, sondern vielmehr eine mit viel Intelligenz und Ironie geführte Phantastik. Jan blickt liebevoll-ironisch auf das Leben und erfindet dabei Geschichten, die Welten zustande kommen lassen. In dem obengenannten Fragment aus dem Roman "Ein Sonntagskind" geht es um das Ding an sich, ein Problem, mit dem sich die deutsche Bürokratie zu Hitlers Zeit konfrontiert- die Idee ist einfach überwältigend. Und das kommt eben von seiner Ironie, gekoppelt mit einer enormen Einbildungskraft. Wenn ich an "Die Sieben Leben des Felix Kannmacher" denke, kommt mir das Buch wie eine immense Geschichte vor - eine Geschichte aus der andere Geschichten herauswachsen. Es geht um das Absurde der Historie, dem wir nur entkommen können, indem wir Geschichten erfinden. Unser Leben setzt sich aus den Geschichten zusammen, die wir uns erzählen. Das Talent, mit dem Jan diese Geschichten erfindet, ist einfach erstaunlich - ich habe keinen anderen Autoren gekannt, der soviel Phantasie, Intelligenz und Ironie zugleich besitzt. Und dazu noch liebevoll auf die Welt blickt.
Im Roman "Ein Sonntagskind" setzt du dich mit der Jugend deines Vaters auseinander. Wie war es für dich, auf diese Weise eine Familiengeschichte erneut zu durchleben?
Jan Koneffke: Es war keine so schöne Erfahrung und ich habe mit diesem Roman ganz anders gekämpft als zum Beispiel mit dem Roman "Die sieben Leben des Felix Kannmacher". Es gibt eine Stelle bei Thomas Mann wo er sagt mit dem "Doktor Faustus" war es fürchterlich schwierig und wie schön war es dagegen mit "Josef und seine Brüder", wie spielerisch, wie leicht habe er das geschrieben. Genau so ging es mir mit dem Roman "Die Sieben Leben des Felix Kannmacher", für mich war es ganz leicht zu schreiben, weil es fast nur Fiktion war. In diesem Fall aber, obwohl ich das viel besser vor Augen hatte, weil es meine Welt ist, die Welt der Nachkriegszeit, war es fürchterlich schwer, weil es mich persönlich betroffen hat. Das war meine Geschichte, beziehungsweise die Geschichte meiner Familie. Es geht dabei um eine Trilogie: "Eine nie vergessene Geschichte", "Die sieben Leben des Felix Kannmacher" und "Ein Sonntagskind". Als ich das erste Buch geschrieben hatte, hat mich ein ehemaliger Schulfreund meines Vaters angeschrieben und zwei Jahre später habe ich von ihm Briefe meines Vaters aus dem Jahr 1945 bekommen. Diese Briefe waren nicht einmal an diesen Freund gerichtet, sondern an einen dritten Schulfreund, also selbst ein Roman in einem Roman. Ich wusste, bevor ich das erste Buch zu Ende geschrieben habe, dass ich eine Trilogie schreiben will. Ich habe aber erst durch die Veröffentlichung des ersten Buches eigentlich das Material in die Hand bekommen, das mir ermöglicht hat, das dritte Buch zu schreiben. Der Roman hat also in die Wirklichkeit eingegriffen, damit ich auch den dritten Teil noch schreiben konnte, hat sich also selbst realisiert.
Und da kam also dieser Brief meines Vaters. Ich wusste natürlich, dass er als Siebzehnjähriger in den letzten Kriegsmonaten Soldat war, aber ich wusste nichts Detailliertes, weil er nie darüber gesprochen hat. Anfangs wollte ich diese Briefe gar nicht anfassen, vor allem einen, der 30 Seiten lang war, handschriftlich. Dieser hat auch sehr detailliert enthalten, was er in den Monaten vor Kriegsende eigentlich gemacht hat. Ich habe ihn dann doch gelesen und ich war erschüttert. Es war ein völlig anderer Mensch als der, den ich als meinen Vater kennengelernt habe, nicht weil er Nationalsozialist gewesen wäre, denn das war er gar nicht, sondern eine Person, die alle militärischen Werte internalisiert hatte. Er war sechs Jahre alt als die Nazis an die Macht kamen, er gehörte also der Generation an, die durch die natinalsozialistische Bildungseinrichtung gegangen und indoktriniert war. In einer Mischung aus Abenteuertum, Großspurigkeit, Coolness würde man heutzutage sagen, werden diese Kriegsereignisse geschildert und die sind fürchterlich. Mein Vater, so wie ich ihn kannte, war Mitte der Sechsziger sehr links orientiert, also jemand, der genau auf der anderen Seite stand. Was er als Siebzehnjähriger gedacht und was er getan hat, darüber wurde nie gesprochen, die Perspektive war: Es darf sich nie wiederholen, Nationalsozialismus, Auschwitz, das alles darf sich nicht wiederholen! Das ist das Thema des Buches, aber es nicht nur eine persönliche Geschichte, sondern eine Geschichte Westdeutschlands. Es ist ein sehr deutsches Buch, es ist eine sehr traurige Geschichte. Anders als bei Vlad gibt es nur eine chronologische Geschichte, die erzählt wird, es gibt aber verschiedene Erzähler, weil es diese Geschichten dazwischen noch gibt, dieses Geschichtenheft aus dem wir vorhin gehört haben. Das ist so etwas wie kontrafaktisches Erzählen. Das ist so als würde man diesem Sonntagskind, Konrad Kannmacher, noch ein anderes mögliches Leben geben, in dem er als Held auftritt, aber als lustiger Held, der das Ding an sich entdeckt. Das ist die kontrafaktische und die lustige Geschichte. Ganz am Schluss taucht ein Ich-Erzähler auf, der das Alter Ego des Autors ist, der Sohn Konrad Kannmachers, und dann wird es klar, dass das ganze Buch von diesem einen Ich aus erzält worden ist
Bei dir Vlad geht es um einen polyphonischen Roman und du hast behauptet, der Vormund all deiner Figuren gewesen zu sein . Wie geht das?
Vlad Zografi: Ich muss zugeben, es ist eine Angewohnheit von mir, jedes Mal wenn ich etwas denke, ziehe ich gleichzeitig auch das Gegenteil in Erwägung und verneine somit den ersten Gedanken. Ich versuche die Idee zu bekämpfen und, wenn sie standhält, ist es gut. Ich versuche also immer wieder die Dinge auch aus einer anderen Perspektive zu betrachten. In politischen Angelegenheiten, zum Beispiel, gibt es viele Leute, die unterschiedliche Meinungen vertreten. Das Leben in der Gesellschaft setzt, meiner Ansicht nach, viel Phantasie voraus und wenn wir nicht versuchen, den Anderen zu verstehen, sind wir verloren. Es ist unmöglich, ein gesundes soziales Leben zu führen, ohne sich ab und an in die Haut des Anderen zu versetzen. Deswegen höre ich mir immer alle Argumente an. Dieser ist auch der Grund, warum ich so erzählt habe.