Der Kampf der Autorin mit der deutschen Sprache, die sie seit über 10 Jahren erlernt, scheint für sie der eigentliche Anlass gewesen zu sein, sich auf die Suche nach ihrer ukrainisch-jüdischen Familiengeschichte zu begeben. Aus diesen Bemühungen heraus ist das Buch “Vielleicht Esther“ entstanden ist. 2013 wurde Katja Petrowskaja mit dem Ingeborg Bachmann-Preis ausgezeichnet. Die Jury motivierte die Entscheidung, der Text sei „ein Geschenk an die deutsche Sprache“. Das Buch erschien in der rumänischen Übersetzung von Alexandru Al. Sahighian, im Humanitas-Verlag. Das Gespräch mit der Autorin fand am Morgen des 15 Juni in Bukarest statt.
Sie erzählen in dem Buch “Vielleicht Esther“ Ihre russisch-jüdische Familiengeschichte, aus der Perspektive einer dritten, postsowjetischen Generation. Oder vielleicht auch nicht?
Ja und nein. Ich bin aus einer typischen Inteligenzija-Familie. In der Sowjetunion waren solche Familien die Träger dieser Schmerzgeschichten, sozusagen die alternative Selbstbeschreibung. In gewisser Weise, der Inbegriff von Gewissen. Wir haben uns nie mit irgendwelchen sowjetischen Narrativen identifiziert, sondern mit den Geschichten, die sie uns nicht erzählt haben. In meiner Familie gab es Kriegsgefangene und Holocaustopfer aber es könnte auch anders sein, dass ich diese Opfer nicht gehabt hätte - es verändert letztendlich nichts. In diesem Sinne hat der Familiendiskurs mir das Recht gegeben, darüber zu sprechen.
Und es ist nicht nur Familiengeschichte, sondern wie man heutzutage überhaupt mit großen Katastrophen umgeht. Wie behält man die eigene Normalität und nimmt zugleich diese Katastrophen auf sich? Es gibt Katastrophen bei denen es keine Zeugen gibt. Es wird über diese Massaker sehr viel geschrieben, aber wenn man es wahrnimmt, wie viele Menschenleben, wie viele Geschichten einfach nie realisiert wurden, oder wirklich für immer verschwunden sind, kann man unendlich darüber erzählen, aber man wird es nicht erschöpfen, weil es tatsächlich verlorengegangen ist. Aber wir haben alle dieses Erbe. Ich sehe keinen Unterschied zwischen den Leuten, die das in der Familie hatten oder nicht, weil uns alles erzählt wurde.
Bei Ihnen gehen die Inhalte ganz eng mit der Form zusammen. Das bringt eine ganz besondere Poesie in Ihre Schreibweise.
Das ganze Schreiben war ziemlich schmerzhaft, weil ich für jeden Text und für jede Aufgabe eine eigene Form gesucht habe. Ich komme aus extrem strukturalistischer Schule, aber was wir wirklich gelernt haben, ist, dass jedes Material eine eigene Methode braucht.
Zum Beispiel als ich mit Resten von den Geschichten umgegangen bin. Da gibt es ein Rezept: drei verschiedene Erzählungen warum mein Großvater nach 40 Jahren wiedergekommen ist.
Oder die Frage, wer Judas Stern war: ein Verrückter, ein Provokateur oder wurde er von Geheimdiensten gekauft usw. Tausende Fragen. Ich hatte versucht, nicht nur alle diese Versionen reinzunehmen, sondern eine richtige Angehensweise zu finden, wie man mit diesem Material nicht repressiv umgeht. Also nicht nur, dem vorhandenen Material in eine gewisse Form zu geben, sondern wirklich alle diese Facetten in irgendwelcher Form mit hineinbringen. Ich habe immer einen Weg gesucht, meine eigene Form nicht zu reduzieren, sondern wahrzunehmen.

Katja Petrowskaja la București | Foto: Matei Buță © Șapte Seri
Haben sie da als Literaturwissenschaftlern literarische Vorlagen oder Autoren und Texte, die sie beeinflusst haben?
Meine Lieblingsschriftsteller haben leider mit meinen Fähigkeiten überhaupt nichts zu tun. Als ich dieses Buch geschrieben habe, war ich immer sehr traurig, ich dachte, ich werfe jetzt alles weg, was ich in der Literaturwissenschaft gelernt habe, und ich reduziere mich immer weiter. Komisch, da sitzt ein spanischer Übersetzer und sagt „das ist genauso wie in Schklowski“. Dann wurde ich mit Derrida verglichen. Das ist faszinierend. Du nimmst etwas aus dieser ganzen Welt mit hinein, manchmal total unbewusst. Ich wollte nichts konstruieren, ich habe eher wie ein Medium agiert.
Als ich mit dem Teil „Spaziergang in Babij Jar“ fertig war, habe ich verstanden, dass dieses ganze Kapitel komplett nach der Vorlage von Antonionis „Blow Up“ geschrieben war. Es geht darum, dass man etwas sieht, das hier geschehen ist, dieses Geschehene ist aber absolut nicht zu beweisen, es gibt überhaupt keine Spuren, keine Dokumente. Was du hier trägst mit deinen Schmerzen, mit deiner Erzählung, ist unfassbar. Und dann kommen plötzlich diese Pantomimen, die sagen "doch, doch ". Das war ein Tag, den ich komplett erlebt habe und da stellt sich die Frage, wenn man solche Sachen als Literaturvorlagen beschreibt, in wie fern bereits unsere Wahrnehmung literarisch geprägt ist.
Ihr Text erwächst aus einem ganz subjektiven Verhältnis zu den Sprachen, zum Deutschen, aber auch zum Russischen und Jiddischen...
Die deutsche Sprache ist der Hauptheld dieses Buches. Das Ganze war für mich auch eine Aufgabe. Wenn man diese Opfergeschichten auf Deutsch aufschreibt, um die Sprache zu retten. Wenn Canetti reden einen Aufsatz, „Die gerettete Zunge“ schreibt, verstehen alle, dass es um die gerettete Sprache geht.
Zum Besipiel
Omri Ronen, ein Wissenschaftler, der über Osip Mandelstam und dessen Zeitalter in der russischen Poesie geschrieben hat. Er ist eigentlich in Budapest geboren, vor dem Krieg in Kiew aufgewachsen, dann in Israel, England und war dann letztendlich Professor in Amerika. Ronen hat seine Memoiren auf Russisch geschrieben und es ist die beste russische Sprache, die ich je gelesen habe.
Alle russischen Poeten, von Pasternak bis Mandelstam, sind mehrsprachig. Das war schon immer so. Die russische Literatur ist auf Russisch entstanden, aber man kann nicht übersehen, dass alle, von Puschkin bis Tolstoi Französisch als Hauptsprache hatten. „Krieg und Frieden“ beginnt auf Französisch.
In den letzten Jahren wurde ihr Buch in viele Sprachen übersetzt. Wie wird diese komplexe Sprachen-Problematik in den Übersetzungen durchgeführt?
Natürlich geht bei der Übersetzung in andere Sprachen etwas verloren. Bei einem Seminar mit 10 Übersetzern, auch Alexandru war dabei, ging es darum, wie man diese Fremdheit bewahrt, wenn man es in eine andere Sprache überträgt. Was gesagt wurde, wurde auf Deutsch gesagt Es sollte doch etwas Gebrochenes dableiben. Es stellt sich die Frage, an welchen Stellen man trotzdem übersetzen muss. Das ist in verschiedene Übersetzungen unterschiedlich möglich gewesen und das hatte auch mit den Fähigkeiten der Übersetzter zu tun.
Im Kapitel, „Das Tor“, geht es um
Oświęcim, was auf Deutsch
Auschwitz heißt. Ich wollte kein Auschwitz. Es war mir ganz wichtig, dass dieses russisch-polnische Wort da ist. Im ganzen Text geht es um Arbeit, Freikaufen und Freiheit. Was auf dem Tor steht, wird nie ausdrücklich erwähnt, alles kreist aber um diesen Satz. Mir ist es wichtig, dass der Leser lieber erst gar nicht versteht, in der Luft hängen bleibt, als dass er mit Worten bombardiert wird, die missbraucht wurden. Dieser Slogan wurde wirklich zu leichtgemacht, man kann ihn mundgerecht konsumieren, fast wie ein Stück Pizza.
Mit den Sprachen klappt es nicht immer. Es ist nicht vorsehbar, was mit den Übersetzungen passiert und warum. Die französische Übersetzung war sehr gut, aber es gab keinerlei Rezensionen. Und in Italien, das ist verrückt, wurde sehr viel geschrieben, es gab Treffen mit Studenten, mit Jugendlichen. Ich dachte immer, für Italien sei der Stoff noch viel weiter weg als für Frankreich...
Wenn die Übersetzung diese Unruhe zwischen den Sprachen nicht transponiert, wird sie einfach zum Narrativ. Viele verstehen nicht, dass das Buch schon auf diesen Verlust gebaut ist. In gewisser Weise ist es ein russisches Buch, das auf Deutsch geschrieben wurde.
Zum Beispiel musste ich den Übersetzern das erste Kapitel, das auf dem Berliner Bahnhof spielt, erstmal erklären: auf Russisch heißt Bahnhof
woksal (Вокзал) eine falsche Etymologie vom englischen Vauxhall, also ein „Saal vieler Stimmen“ – VOX-HALL. Oder das ganze Motiv von Schießen, Uhrzeiger, Achilles, hat auch mit dem russischen Wort „striletz“ (стрелять) zu tun. Das sieht man nicht, weil es auf Deutsch ist, es löst aber eine Kette von Assoziationen aus.
An einigen Stellen geht etwas verloren, auch Alliterationen, an anderen wird aber wieder etwas Neues gefunden. Zum Beispiel das Statement „wer nicht lügt kann nicht fliegen“, im ersten Teil. Der ganze Satz erwächst aus Alliterationen und Lauten: beflügeln, lügen usw.… eine poetische Folge. Der englische Übersetzer findet hier die Worte „fly“ und „lie“, die sich reimen, obwohl es im Deutschen an dieser Stelle gar keinen Reim gibt.
Sie beweisen ein besonderes Gefühl für Rhythmus und Wortwahl…
Ich habe 10 Jahre lang in einem Chor gesungen und das hat mir vielleicht vielmehr gegeben als das ganze Studium. Da haben wir auch Bach gesungen.
Bach ist immer mit dabei: zum Beispiel im Kapitel über Tante Lidas Rezepte (diese Tante, die vielleicht die letzte war, die diese Rezepte kannte, aber sie war gar nicht jüdisch),
" Du kochst Wasser und lässt es auf Zimmertemperatur abkühlen…“
Natürlich wurde das Rezept auf Russisch geschrieben, aber im Deutschen war dieses „du“ war plötzlich da. Und schon wieder Bach: „Warum hast
du mich verlassen!“.
Und immer wenn in einem ganz langen Satzbau das Wort "allein" vorkommt, weiß ich ganz genau, das ist Arie Nr. 136.
Ich habe ein deutsches Buch nach russischen Regeln und Rhythmus geschrieben. Das war wirklich ein Kampf, weil ich Artikel nicht respektiere, dann wurde alles korrigiert, dann stimmte wiederum der Rhythmus nicht und alles musste umgeschrieben werden.
In gewisser Weise wäre mein Buch ohne Google nicht möglich gewesen. Ich habe nicht so viele Wörterbücher zu Hause. Beim Schreiben wusste ich, dass ich etwa 3 Silben brauche und es sollte ungefähr das Wort sein. Ich habe die ganze Zeit deutsche Worte gegoogelt. Google sei Dank...
Ist die Suchmaschine ein guter oder ein repressiver Gott ?
Sie gibt uns entweder einen
common ground oder einen
commom heaven,
Mich hat es immer amüsiert, dass die Suchmaschine vor allem ein Ersatz für Gedächtnis ist. Das wir uns oft keine Mühe geben, uns zu erinnern, sondern gleich losgoogeln. Früher haben wir alles körperlich erlebt. Bevor wir uns jetzt auf eine Reise begeben, sitzen wir erstmal zu Hause und googeln. Dabei erfährt man über die Orte mehr als wenn man wirklich dastehen würde.
Körperliche Erfahrung ist mir sehr wichtig. Mit Google ist alles so vergänglich. Man weiß gar nicht, ob man diese Erfahrung wirklich gemacht hat.
Diese Leichtigkeit macht etwas aus unserer Ehre. Dass wir das alles besuchen können, ohne uns dabei in Gefahr zu bringen. Es ist alles auch viel einsamer geworden. Internet ist eine der größten identitätsstiftenden Kräfte. Ehe wir es bemerken, sind wir schon längst in tausenden von Communities eingebunden. Die Leute finden sich über diese Kanäle wieder. Und es wird immer noch über Ethnien und Religionen diskutiert, obwohl alle längst in großen Manga-Communities sitzen.
Zugleich mit dem Erfolg ihres Buches hat sich auch Ihr Status in der Gesellschaft geändert. Können Sie als öffentliche Person, deren Meinung in den Medien gefragt wird, etwas ändern?
Natürlich ist es eine große Versuchung. Aber in jedem Erfolg gibt es gute und böse Seiten. Ich bin eher ein Glücksfall, weil ich keine Hoffnungen oder Vorstellungen hatte. Ich zähle nicht zu den Menschen, der irgendwie auf Gewinn setzen oder irgendwelche Strategien im Leben haben. Ich versuche gerade, es zu genießen.
Vielleicht hat es auch mit meinem Konzept von Leben was zu tun. Als ich das Buch geschrieben habe hatte ich die ganze Zeit gedacht, dass ich einen Fehler mache. Wenn aber durch einen Fehler mein Kiew und meine Geschichten aber so angenommen werden, ist das für mich sehr wichtig.
Ich habe natürlich auch meine Rolle benutzt. Ich bin keine öffentliche Person. Ich habe eine eher hysterische Attitüde zu Taten. Manchmal agiere ich wie verrückt. Ich hatte vor zehn Jahren „Kiewer Gespräche“ initiiert, ein deutsch-ukrainisches Forum, aus dem ich herausgegangen bin, weil es nicht meine Rhetorik ist.Es gibt Leute, die sind Aktivisten geworden, die vielleicht besser verstehen, worum es wirklich geht.
Damals war es aber für mich persönlich ein Muss zu agieren. Ich hatte wirklich meinen fünfminutigen Ruhm benutzt, um, wie ich dachte, die Welt ein bisschen besser zu machen
Aber ich hatte ständig solche Eskapaden. Ich hatte auch eine Kampagne für Nadija Sawtschenko geführt. Während des Maidans hatte man das Gefühl, das man etwas tun sollte, weil sonst noch schlimmere Dinge passieren, dass noch mehr Leute sterben, das wirklich der Krieg kommt. Wie sie sehen, habe ich nichts verhindert.
Es ist ein Zufall, dass ich das Buch mit der Institutskaja Straße beende, genau die Straße, wo einige Monate später Leute getötet wurden. Das hat auch in mir was erzeugt, weil es bedeutet, dass ich das richtige Gefühl gehabt habe: wenn man etwas nicht erzählt, wenn man einen gewissen Ort nicht ins Zentrum zieht, wenn dieser Ort nicht in den europäischen Raum angenommen wird, werden die Katastrophen sich häufen.