Es schreibt
Reschitza, Februar 1982 / Hamburg, Frühjahr 2020
Bücher sind schon deswegen kostbar, weil sie nicht so leicht zu haben sind. Im kommunistischen Buchhandel kriegt man Kinderbücher und Romane seltener als frischen Hochseefisch und nur mit Beifang – ein
freies Buch als Sandwichbelag zwischen zwei regimekonformen Bänden, roten Fledderwälzern mit schmutzig- weißem, eng bedrucktem Innenleben, Papier, das nicht einmal fürs Plumpsklo in Fuchsental taugt und doch meterweis aufbewahrt werden muss, alternativ käme Kaminanfachen infrage, aber das bringt Ellie nicht übers Herz. Für Bücher brennt man selber, die verbrennt man nicht, egal wie hanebüchen.
Die Bücher, die guten, die es gibt, hat Ellie alle, und Hanne bekommt die ihren, kaum dass Ellie die ersten Buchstabenwälder für sie hat sprießen lassen. Was auch immer sie kosten, wie lang auch immer man anstehen muss, gute Bücher und gutes Essen teilen sich von Anfang an Platz drei auf Ellies Liste dessen, was Mütter ihren Kindern zu geben haben, auf dem Treppchen nur geschlagen von Liebe und Geduld. In welcher Sprache die Bücher singen, flüstern, lachen und schreien, ist zweitrangig – Rumänisch, Deutsch, Englisch, das Kind soll alle haben, die es will.
Als die Kinderbücher alle sind und kein Nachschub mehr fließt, frisst sich Hanne durch Dumas und Hugo und große Bildbände über Schmetterlinge und Muscheln, palastähnliche Höhlen in den Karpaten und seltene Pflanzen des Banater Berglands. Bücher sind Freunde, sind Zuflucht, sind Luft. Bücher sind die einzige Chance auf Wahrheit, die einzige Waffe im Kampf gegen Stoffver färbungen durch mündliches Erzählen, auch wenn schon das erst malige Aufschreiben Deutung und Veränderung ist, aber trotzdem sind Bücher Festhaltegriffe und sicherer Boden im trügerischen Treibsand. Je fiktiver ein Buch, desto höher der Wahrheitsgehalt. Kondensiert und verdichtet wie ein Diamant funkelt die Echtheit demjenigen ins Auge, der die Erdschichten darüber wegzuwischen weiß. Bücher sind Heimat und manchmal auch Lebens retter wie die fünf Bände
Cireșarii an den fünf Tagen, die Hanne mit Mal-wieder-irgendeine-Kinderkrankheit im Bett verbringen muss. Danach ist nichts mehr, wie es war. Danach ist Hanne eine von ihnen, den Kirschwinklern, die zusammen jedes Abenteuer bestreiten, in Höhlen, in Burgen, in Schneewehen, auf dem Rummel, am Meer und im Herzen. Gäbe es solche Freunde im Leben, müsste man sie nicht herbeilesen, aber wenigstens hat sie sie jetzt zwischen den Buchdeckeln, sie kennt von jedem selbst die kleinste Eigenheit, sie zeichnet sie, sie spricht mit ihnen, sie schweigt mit ihnen, sie bettet sie Jahre später in die Kiste, die gen Westen wandert, und von da an in jedes Bücherregal ihres Lebens.
Vom Lesen zum Schreiben ist der Sprung nur bleistiftminenweit, zwei Schwestern, die zusammengehören wie Einatmen und Ausatmen. Aber wie hinkommen zum Schreiberinsein, diesem Ziel, das Hanne weiter weg erscheint als die Milchstraße und ähnlich nebulös, wie davon leben. Man müsste den Mann fragen, dessen Füller die
Kirschwinkler geboren hat, aber über den ist kaum mehr bekannt als das Geburtsjahr und der Wohnort, außer Reichweite, Planet Bukarest. Hanne schreibt und schreibt und liest und schreibt und würde doch am liebsten alles Geschriebene schon eine Nacht später wieder wegwerfen. Als Frau Ziemer eins ihrer Gedichte an die Zeitung schickt, nässen alle Zungenknospen nach noch mehr von diesem betörenden Vorgeschmack. Mama kriegt feuchte Augen, als Hanne in der Schule einen glühenden Aufsatz über ihre Mutter abgibt, nickt aber nur mit einem traurigen Lächeln, als der nächste Aufsatz über die Liebe zum kommunisti- schen Vaterland noch mehr Ehrung abbekommt.
Zum vierzehnten Geburtstag schenkt Ellie ihrer Tochter einen Weltraumflug. Sie nimmt Hanne mit zur Hauptpost in die Stadt, wo alle Telefonbücher des Landes unter Verschluss hängen, sie steckt der Wachbeamtin dort leise Worte, ein längst ausgefülltes Antragsformular auf erfundenem Grund und ein raschelndes Päckchen zu, und dann dürfen sie ins Verlies. Zehn Minuten, gnädige … Genossin, zehn Minuten, mehr kriegen Sie nicht. Das Telefonbuch von Bukarest ist das einzige in zwei Bänden, Ellie schlägt den ersten bei C auf, na los, sagt sie mit einem breiten Lächeln und schiebt Hanne einen Bleistift und ein Blatt Papier zu, schreib sie alle ab. Das Begreifen dauert nur einen Atemzug. Gleich acht Constantin Chiriţă gibt es in Bukarest, dazu noch sieben Einträge mit nacktem C., und Hannes Hand fliegt über das Papier, das sie dann wie einen Schatz erst an die Brust drückt und schließlich wie eine Waffe hinten in den Hosenbund steckt.
Vom Telefon zuhause kann man nur innerhalb der Stadt sprechen, landesweite Gespräche und solche ins Ausland sind teuer und müssen weit im Voraus bei der Zentrale angemeldet werden, und dann sitzt man Stund um Stund und manchmal bis zum nächsten Morgen da und wartet, dass die Verbindung genehmigt wird, und manchmal hört man in der Leitung noch einen dritten Atem und hat nur wenige Minuten Zeit, Tata nach dem Wichtigs- ten zu fragen, ob seine Lieblingsfarbe immer noch Grün ist und ob Brief Nummer 157 angekommen ist oder Postkarte 158 schneller war. Von Mamas Rotkreuzbüro aus kann dagegen landesweit tele foniert werden. Mama stellt ihr den schwarzen Bakelitapparat hin, der Zettel mit den Nummern ist schweißnass glattgestrichen und bereit. Vor Aufregung sirren Hannes Adern wie Stromkabel kurz vor Kurzschluss.
Wohnt da der Schriftsteller Constantin Chiriţă?, lautet die alles entscheidende Frage nach der Namensnennung. Hanne erntet drei Neins und drei endlose Klingelketten ohne Antwort, dann, bei der siebten Nummer, sagt eine Frauenstimme: Ja, Moment. Und dann ist ein Mann dran, und in Hannes Kopf werden all die vielen Fragen, die sie vorbereitet hat, von einer blauen Ehrfurchtswelle weggespült, alle bis auf eine: Woher kamen Ihre Ideen zu den
Cireșarii? Die Antwort ist beinahe unerheblich. Aus meiner eigenen Kindheit, aus der meiner Kinder, aus meinem Kopf, von überallher. Was sie sich einprägt für alle Zeit, ist die Unfassbarkeit, dass dieser Mensch, der Vater ihrer Papierfreunde, tatsächlich lebendig ist und eine Stimme hat, die jetzt, in dieser Sekunde, mit Hannes verbunden ist. Sie stammelt ein Dankeschön und verabschiedet sich, und nachdem sie aufgelegt hat, begegnet sie Ellies aufgerissenen Augen, Jessas Maria, ich bin so stolz auf dich, Goldkind.
Es braucht über zwanzig Jahre und viel geknirschtes Jetzt-erst-recht, bis Hannes erstes eigenes Buch erscheint, ein Kinderbuch, das erste von vielen. Es braucht viele Leute, die ihr unverdauliche bleischwere Brocken hinwerfen, das schaffst du eh nie, Schuster bleib bei deinem Leisten, wie kannst du dir einbilden, Autorin sein zu wollen, du Dahergelaufene, wo doch Millionen Hiergeborene das nicht hinkriegen. Und es braucht nur einen einzigen Menschen, der keine Sekunde dran zweifelt, dass ihre kleine Große es allen zeigen wird.
Mama. Die wird höchstens böse, weil sie merkt, dass Hanne es viel leichter schaffen würde ohne diesen Niemand an ihrer Seite, der ihr alle Ichkraft raussaugt. Konzentrier dich mehr auf dich, Kind, sagt sie knirschend, aber dann … Nein, den Fehler ihrer Mutter wird sie nicht wiederholen, sie wird sich nicht einmischen in die Männerwahl ihrer Tochter, außerdem ist da noch Luis, und der braucht einen Vater, aber ein scharfes Hexenaug wird sie auf diesen Günthergeck immer haben, und wehe, der krümmt ihrer Hanne ein Haar. Vielleicht traut der sich deswegen erst abzuhauen, als Ellie tot ist.
Über fünfzig ist Hanne und schon lang nicht mehr blind für Zeichen, als sie in eine Lesung des Verlags gerät, in dem sie ein Vierteljahrhundert zuvor als Studentin einen Sommer lang Büchermachen leben durfte, drucken, binden, korrigieren, umordnen, verpacken, versenden, ein Sommer, ohne den es Hannes Namen auf keinem Buchumschlag gäbe. Die kleine Verlegerstochter von damals ist inzwischen selbst Verlegerin, sie will Hannes Romanidee prüfen, und Hanne schickt mit wummerndem Herzen einen Papierpacken in ihre bayernschwäbische Vergangenheit.
Die Zusage kommt in einer Zeit, in der sonst nur noch Absagen existieren, geplatzte Reisen, geschlossene Türen, Gesichtsmasken und gespaltene Gesellschaften, Angst und Zorn in allen Farben, und Damoklesschwerter, die sich zu stahlstarren Fragezeichen verbogen haben. Hannes Roman, er darf ans Licht, und die Arbeit daran trägt sie durch das Jahr. Wo andere sich zum Schreiben Musik auf die Kopfhörer packen, hat Hanne ihren Lieblingslebenston im Ohr, Ellies glockenrotes Lachen, den Kopf in den Nacken gelegt, na also, sikstes.
Die Chamäleondamen, Maro Verlag
Yvonne Hergane, 1968 in Reschitza, Rumänien, geboren und zweisprachig aufgewachsen, kam mit 14 Jahren nach Deutschland. Sie studierte Germanistik, Anglistik und Buchwissenschaft in Augsburg und München und arbeitet als Autorin sowie literarische Übersetzerin aus dem Englischen, vor allem von Kinder- und Jugendliteratur. Ihr Bilderbuch »Einer mehr« war für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert, für »Sorum und Anders« erhielt sie den Leipziger Lesekompass; beide Bücher erschienen im Peter Hammer Verlag. Yvonne Hergane wohnt mit ihrer Familie nahe der Nordsee. »Die Chamäleondamen« ist ihr erster Roman.