Irgendetwas scheint man in diesem Land richtiger (oder viel, viel richtiger) als anderswo zu machen, wenn man in öffentlichen Bibliotheken schon kontrollierend auf den Apfelkonsum der Leser einwirken muss! Wann immer ich in die Bibliothek komme, ist diese voll. Kinder, Jugendliche, Studierende und ältere Menschen, also recht besehen eigentlich alle Menschen, sind hier am Lesen. In anderen europäischen Ländern (und in mit Turku vergleichbaren kleineren Städten) sind Bibliotheken zu unfassbar trostlosen Orten der Leere verkommen (mir fällt dabei immer eine Formulierung des französischen Ethnologen Marc Augé für entseelte Orte eine: „Nicht-Orte“). Sie scheinen nur noch von Ferne an jene alten Zeiten zu erinnern, in denen Menschen wenigstens zeitweise dem Lesen von Büchern gewidmet haben (könnten). Manchmal ist in diesen Sälen ein merkwürdiger Zeitstillstand spürbar, eine Art geistige Staubschicht, die mich denken lässt, dass man mitten in seinem eigenen Jahrhundert schon fühlen kann, wie es einmal sein wird, dieses knöcherne Jahrhundert der Logik, das sich so weit von der Schönheit der menschlichen Existenz entfernt hat.
Hier in Turku ist das anders. Selbst zehnjährige Kinder lesen in der Bibliothek und schauen denkend in die Luft, ohne sich von irgendjemanden dabei stören zu lassen. Äpfel isst aber tatsächlich niemand. Habe schon ein par Apfelkontrollrunden eingelegt, um zu sehen, ob sich jemand dem Verbot widersetzt (das kann man von denkenden Menschen, die Leser ja sind, schließlich als allererstes erwarten). Aber vielleicht bin ich einfach immer zur falschen Zeit da. Oder das positive Vorurteil von den vollendet höflichen Finnen stimmt wirklich. Irgendwann sehe ich aber auch plötzlich ein „Apfel-ist-erlaubt-Schild“. Aber auch hier - keiner isst ihn, den schönen roten Apfel. Er ist wohl eine Art Synonym für das, was hier in der Bibliothek geschieht – selbst am Samstagnachmittag muss der Mann von der Security gucken, dass er uns nach Feierabend auch alle rechtzeitig aus dem Saal verabschiedet. Obwohl er sehr präsent ist, rührt sich niemand, ja förmlich bis zur letzten Sekunde sitzen alle an den Tischen und lesen in aller Gelassenheit.
Ich auch, denn ich habe auf meinen engagierten Apfelrunden entdeckt, dass hier sogar eine neue Ausgabe der ZEIT ausgelegt ist. Fünf Minuten, bevor wir alle dann schließlich rausgebeten werden müssen, lese ich darin, dass ein Schriftsteller die Erwartungen einer Literaturkritikerin nicht erfüllt hat und dass er in einem Gespräch mit ihr sein neues Buch verteidigt. Er merkt selbst, dass das falsch ist. Und ärgert sich, dass er das macht. Er hat recht, man soll überhaupt nichts verteidigen, denke ich, schon gar nicht die Bücher, die man selbst schreibt. Aber ich kann das Interview leider nicht zu Ende lesen, die Bibliothek wird jetzt definitiv geschlossen, zwei Sekunden vor Schluss. Langsam setzen sich die Leser in Bewegung. Gefühlte zweihundert Menschen verlassen mit mir den kleinen Saal.
Draußen singen die Bäume im Wind. Im Café Sirius bekommt man ein sehr winziges Stück Brownie für die Hälfte des deutschen Mindeststundenlohns. Der Brownie schmeckt. Der Kaffee schmeckt auch sehr gut. Wie alles hier. Die Bäume glitzern in der Herbstluft. Da sie nie irgendjemand interviewt, rechtfertigen sie natürlich auch ihre Bewegungen nicht. Sie haben uns Menschen einiges voraus, so wie Finnland Europa einiges voraus hat. Zum Beispiel, dass man hier verstanden hat, was Kindern gut tut – und wahrscheinlich auch, dass sie schon jemand sind und nicht erst werden müssen (ohne dass das eine Floskel ist). Das bedeutet auch, dass sie spielen dürfen, bevor sie mit sieben eingeschult werden. Schließlich muss man als kleiner Mensch auch Zeit haben, um mal zwischendurch in aller Ruhe einen Apfel zu essen. Ich begreife jetzt das ganze Ausmaß der Apfelgeschichte und denke auch an die Spielecke im Dom von Turku. Was für ein Freiheitskonzept! Ist doch egal, dass der Kuchen hier wie Gold gehandelt wird! Ach, und noch etwas zu der Bibliothek: Wenn man dort einen Mitgliedsausweis hat, kann man sich ein Fahrrad ausleihen und zahlt dafür nichts. Es muss sehr schön sein, im schneeweißen Turku Fahrrad zu fahren. Aber das hat sich schon herumgesprochen. Unerschrocken sind hier nicht nur die Leser, auch die Radfahrer lieben den Eigensinn.
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