Für die zweite Lesung bin ich nach Turku an die Südwestküste Finnlands gereist. Ich war von den Germanisten der Universität eingeladen worden. An der Domkirche nahm mich Doris in Empfang, eine Dozentin in Turku, die denselben Nachnamen trägt wie eine Figur meines Romans: Wagner, wie Dr. Nancy Wagner, die Leiterin der ornithologischen Station auf der Insel Uusimaa. Ein gutes Zeichen, wie sich herausstellte, denn Doris war sehr nett. Nach einem guten Essen, wir besuchten ein schwedisches Restaurant, das in einer Holzvilla betrieben wurde, führte mich Doris in eine Kapelle, die im Untergeschoss eines Geschäftshauses errichtet worden war. Beim Bau des Gebäudes war man auf eine mittelalterliche Begräbnisstätte gestoßen. Anstatt die Toten umzubetten, hatte man sich dafür entschieden, inmitten des Geschäftshauses einen sakralen Ort zu schaffen. Doris hatte sich den Schlüssel besorgt, in der Kapelle waren wir die einzigen Besucher, und als ich mich umsah, fühlte ich mich, als hätte ich einen geheimen Freimaurer Treffpunkt betreten.
Die Lesung am Nachmittag gestalteten Doris und ich gemeinsam. Wir hatten eine Karte der Insel Uusimaa an die Wand projiziert, zur Orientierung während der Lesung. Denn die Textstellen, die wir ausgewählt hatten, waren Stationen auf der Insel zugeordnet. Bevor ich anfing, sah ich eine Anwesenheitsliste herumgehen. Die Zeit, in der ich selbst an einer Universität war, liegt noch nicht lange zurück, und kurz fragte ich mich, ob die Besucher freiwillig und gerne hier waren, ob sie überhaupt Lust hatten, aus meinem Roman vorgelesen zu bekommen. Doch die Studenten waren erstaunlich interessiert und aufgeschlossen. Ich verließ Turku mit einem guten Gefühl.

Bild 1 — Die Wartehalle des Hauptbahnhofs von Turku


Bild 2 — Der Gebetsraum
Meine nächste Reise führte mich nach Tampere. Arja, die Leiterin des dortigen Deutschen Kulturzentrums, holte mich vom Bahnhof ab. Ich kam am Vormittag an, die Veranstaltung mit mir sollte erst am Abend beginnen. Arja zeigte mir viel von Tampere: Die Stadtbibliothek zum Beispiel, dessen Grundriss einem Auerhahn nachempfunden war, und die Markthalle, wo wir Kaffee tranken. Wir flanierten die Hauptgeschäftsstraße entlang, gingen essen in einem traditionellen finnischen Restaurant. Für den Nachmittag organisierte mir Arja schließlich eine Freikarte für das Stadtmuseum.
Tampere war ein Zentrum der finnischen Industrie, die größte Schlacht des Finnischen Bürgerkriegs wurde hier ausgetragen. Dass der Bürgerkrieg für Finnen nach wie vor ein emotionales Thema ist, erlebte ich zuletzt in Berlin bei einem Abend im Finnischen Kulturinstitut, als die Neuübersetzung von Frans Eemil Sillanpääs Roman »Frommes Elend« vorgestellt wurde und einige Gäste im anschließenden Gespräch aneinander gerieten. In Tampere hatten sich die »Roten« am längsten gegen die »Weißen« zur Wehr gesetzt. Das Museum widmet sich dieser Zeit mit einer großen Dauerausstellung. Gezeigt wurden Fotos und Dokumente, Uniformen, Waffen, und ein Film, ein Interview mit einem der letzten Zeitzeugen. Zu meinem Bedauern waren die meisten Texttafeln nur auf Finnisch, so als wollten die Finnen diesen Teil ihrer Geschichte, bei dem auch Deutschland eine unrühmliche Rolle gespielt hatte, vor allem mit sich selbst ausmachen.
Die Lesung am Abend fand in den Räumen des Finnisch-Deutschen Vereins statt. Es kamen Deutsche, die in Tampere lebten, Erasmus-Studentinnen, die es nach Finnland verschlagen hat, und interessierte Finnen. Im Anschluss an die Lesung hatte Arja für die Gäste einen Imbiss bereitgestellt, und was mich besonders gefreut hat, es gab Wein. Seit ich in Finnland bin, war ich noch kein einziges Mal in einem der Spezialläden für alkoholische Getränke. Ich danke Arja sehr für den Aufenthalt in Tampere.

Bild 3 — Ein Modell der Stadt Tampere aus den Anfangsjahren der Industrialisierung. Im Stadtmuseum von Tampere.
Den Abschluss meiner finnischen Lesungen bildete wieder Helsinki, ich war zu Gast an der Universität. Im kleinen Hörsaal 2 im Hauptgebäude wurde ich von Studenten der Germanistischen Fakultät moderiert. Sie hatten den Anfang des Kapitels »Das Dorf der Mücken« aus meinem Buch ins Finnische übertragen. Nach meiner Lesung las eine Studentin die Übersetzung vor. Ich saß auf einer Bank im Publikum und bekam meinen Text in finnischer Sprache vorgetragen. Es war eine merkwürdige, aber auch sehr schöne Erfahrung.

Bild 4 — Nach der Lesung bekam ich eine Kopie der Übersetzung überreicht.

Bild 4 — Nach der Lesung bekam ich eine Kopie der Übersetzung überreicht.

Bild 5 — Ein Geschenk der Studenten der Universität von Helsinki, nach meiner Lesung
Comments