Vier. Spamo
Die Sauna liegt in einem Holzgebäude am großen Näsijärvi, dem großen See, der sich von der Stadt aus rund hundert Kilometer nach Norden erstreckt. Auf dem Weg dorthin kommen sie an einer Bucht mit flachem Wasser vorbei, an deren Ufer ein Sandstrand für die Kinder aufgeschüttet ist. Elmar sieht, wie Helen mit den Kindern diskutiert, ein paar von ihnen wollen offenbar ins Wasser gehen. Er fragt sich, warum sie ihn nicht fragen. Vielleicht sieht er aus, als würde er sich im Wasser sofort auflösen. Helen ist offenbar nicht einverstanden. Elmar glaubt ihren Gesten zu entnehmen, dass sie wasserscheu ist. Die größeren Kinder – diejenigen, die schon schwimmen können? – dürfen schließlich allein in der Bucht bleiben. Mit den anderen, Wiki und Peedia sind dabei, laufen sie zur Sauna. Elmar erfährt, dass man in diese Sauna nicht textilfrei geht, er muss sich eine Badehose ausleihen.
Die Sauna steht auf einem großen Felsen und schaut auf den offenen See. Das Gelände ist nur in unmittelbarer Nähe der Sauna nivelliert, größere Spalten im Fels mit Beton verfüllt, an einer Stelle gibt es einen langen hölzernen Flügel, auf den man sich zum Sonnenbaden legen kann, ansonsten ist das Ufer naturbelassen. Lediglich einen kleinen Sprungturm und eine ins Wasser führende Treppe bemerkt Elmar noch. An dem Turm ist ein Schild angebracht, das vor Kopfsprüngen warnt, die Wassertiefe beträgt demzufolge an dieser Stelle anderthalb bis drei Meter.
Irgendwo lässt sich sein Handy mit einem akustischen Anrempeln hören. Möpmöpmöp. Wo hat er es hingesteckt? Möpmöpmöp. Es klingt nicht, als würde das aus seiner Hosentasche kommen. Noch einmal: Möpmöpmöp. Jetzt sieht er es. Nokia hat es sich geschnappt und drückt auf den Tasten rum.
„Du hast eine Kurznachricht“, sagt sie.
Er reißt ihr das Teil aus der Hand und starrt darauf. Wieder diese Folge ihm unverständlicher Worte. Jos ei kala syö, niin syötitpä säästyy. Je weniger er einen Sinn in diesen Worten finden kann, umso mehr glaubt er daran. Nicht nur eine Bedeutung – es muss einen Zusammenhang geben, zwischen diesen geheimnisvollen Botschaften und seinen unerbetenen Reisebegleitern. Werden in seiner Unterkunft bald noch mehr von ihnen sitzen? Erwarten sie ihn schon in der Sauna?
„Wenn der Fisch nicht beißt, spart man wenigstens den Köder.“
„Was sagst du?“
„Deine SMS“, sagt Nokia.
„So ein Quatsch“, schreit Elmar, „wer soll mir solche Kurznachrichten schicken?“
„Vielleicht hast du einen Dienst abonniert, der dir jeden Tag eine Losung schickt.“
Bloß nicht, denkt er. Bestimmt ist das Roaming für solche Nachrichten schweineteuer, von den Abo-Gebühren zu schweigen. Und was soll das heißen mit dem Fisch und dem Köder? Er hat noch nie im Leben geangelt. Sein Fach wäre eher das Hakenschmieden. Idiotischerweise aktiviert er bei seinem Handy die Tastensperre.
Zum Umkleiden trennen sich Elmar und Helen mit den Kindern. Die Idee, einfach abzuhauen, kommt Elmar leider nicht. Letztlich wüsste er auch nicht wohin, sie hat einen Schlüssel zur Wohnung und er hat keine Möglichkeit, woanders unterzukommen. Die Badehose ist weit und hat Beine; er schaut an sich runter und kommt sich darin verloren vor, dünn, gar zu dünn geworden. Als er vor den Duschen steht, kommt Helen schon aus einer Kabine heraus. Zum ersten Mal sieht er mehr von ihr als Gesicht und Hände. Sie gefällt ihm, sie hat eine weibliche Figur, ohne drall zu wirken. Es ist sehr schwer, ihr Alter zu bestimmen. Sicher ist sie kein Mädchen mehr, und wenn er die große Zahl ihrer Kinder berücksichtigt, kann sie auch keine ganz junge Frau mehr sein. Aber das sieht er nicht, das denkt er sich. Die Haut an ihren Beinen ist straff, das sieht er, sie ist sehr blass, das sieht er auch. Blass bis in die Haarspitzen.
In der Sauna selbst sitzen an die zwanzig bis dreißig Menschen. Sie zu zählen, scheint ihm bei der herrschenden Hitze vom ersten Moment an zu mühevoll. Obwohl es drei Etagen gibt, sitzen die meisten Menschen ganz oben in der größtmöglichen Hitze. Zwei Fenster zu den Seiten ermöglichen Ausblicke auf den See und lassen Tageslicht herein. An der hinteren Stirnseite steht wie der Altar in der Kirche der große Saunaofen mit den heißen Steinen, davor eine blauer Plastikbottich voll Wasser mit einer Schöpfkelle. Vor diesem oder darunter steht wiederum ein grauer Plastikeimer zum Nachfüllen, den häufig jemand mit nach draußen nimmt und mit kaltem Wasser volllaufen lässt. Genauso findet sich immer jemand, der das Wasser aus dem grauen in den blauen Bottich umfüllt, genauso findet sich jemand, der einen Aufguss macht, manchmal im Minutentakt. Die Temperatur ist sehr hoch, das Thermometer zeigt hundertachtzehn Grad, doch man behauptet, es sei defekt. Anfangs brennt Elmars Haut auf dem Rücken, auch die Nasenschleimhäute schmerzen beim Einatmen. Die Mitinsassen schweigen, nur ab und zu unterhalten sich zwei in leisen Worten. Einige vorwiegend ältere Menschen tragen gehäkelte Kappen auf dem Kopf, die bis über die Spitzen der Ohren reichen. Er hört die Zwillinge später streiten, ob es sich dabei um Finnen oder Ausländer gehandelt hat.
Elmar schielt kurz zu Helen rüber. Ihr dunkler Badeanzug liegt so gut an, dass es aussieht, als hätte sie zur Hälfte schwarze Haut. Absurderweise kommt es ihm vor, als wäre sie ganz von Reif überzogen. Zu ihren Füßen sitzen Wiki und Peedia mit abgewandten Köpfen, aber nicht ohne sich heimlich zu schubsen und zu knuffen. Wenigstens ein Karhu sitzt vorn beim Ofen.

Nach einer Weile merkt Elmar, dass seine Rückenschmerzen wie weggeblasen sind. Hat sie am Ende Recht gehabt, wir das Saunieren ihn gesund machen? Schon träumt er davon, noch einmal so stark zu sein wie der Zeit, als er Spamo schuf - jenes Werk, für das er einst gerühmt wurde, das aber leider zerstört ist. Wenn ihn heute jemand fragen würde, was Spamo ist, könnte er selbst keine Antwort geben. In jedem Fall war es wunderbar, etwas bis dahin nie Gesehenes. Seit der Zerstörung von Spamo ist Elmar nicht mehr viel gelungen. Was er schuf, blieb kalt. Er will zu viel. Es höchste Zeit, dass das anders wird. Elmar fühlt, wie es strömt, jetzt, genau in diesem Moment fühlt er die Kraft. Selbstverständlich kann er hier nichts aufzeichnen, er muss versuchen, es sich zu merken. Aber was? Kann man sich ein Gefühl merken? Ein neuer Aufguss, lässt ihm die Luft in der Sauna unerträglich heiß erscheinen. Tropfen an Tropfen steht der Schweiß auf seiner Haut. Er steht auf. Im Gehen hört er, dass die Zwillinge sich wieder streiten.
"Das Zugeben von Duftölen zum Aufgusswasser ist eher verpönt. Es gehört nicht in die finnische Sauna."
"Manchmal wird aber ein Öl direkt in die Schöpfkelle gegeben. Ein beliebter Duft ist hierbei jener von Teer, sodass es nach dem Aufguss nach dem Inneren eines alten Segelschoners riecht."
"Die Birkenbüschel, die hier auch niemand benutzt, heißen übrigens vihta."
"Nein, sie heißen vasta."
"Das behaupten die Ostfinnen."
"Das andere behaupten die Westfinnen."
Draußen wartet Elmar eine Weile, bevor er ins Wasser geht. Er hofft, dass Helen rauskommt. Sie muss sich ja irgendwie abkühlen, also wird sie auch in den See gehen. Wenn er taucht und sie von den Beinen zieht, könnte sie leicht ertrinken. Es wäre subtiler, als sie einfach vom Sprungbrett zu schubsen, wie Karhu es gerade mit der panisch schreienden Nokia tut. Elmar wäre dann mit den Kindern allein. Aber es wäre ein Anfang. So steht er am Geländer der ins Wasser führenden Treppe und sinniert. Da steht sie plötzlich vor ihm. Hel. Sie steht nicht, sie ist unweit von ihm aus einem Eisloch aufgetaucht. Der ganze See liegt unter Eis, die Bäume ringsum sind nicht mehr grün belaubt. Dichter Nebel liegt über allem.
Kaum ist er im Wasser, schmerzt Elmars Rücken wieder. Die Kälte ergreift seinen Körper und schnürt seine Brust ein. Eine Sekunde lang denkt er, dass er nun vorbei ist.
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