Im Dom von Turku ist gerade eine Ausstellung zu sehen, unter anderem: mit überraschenden Spiegelungen von Segelbooten neben alten Mariendarstellungen. Im Gotteshaus gibt es auch eine Spielecke für Kinder – etwas, das ich in keiner anderen Kirche je gesehen habe, fast so, als seien Kinder sonst darin gar nicht vorgesehen. Sogar Kuscheltiere liegen hier, für den Fall der Fälle. Der Spätsommer ist nun auch hier vorbei. Die Kinder werden schon bald ihre Spiele nach innen verlegen. Vielleicht beten die Kinder ja, wenn sie spielen, wer weiß das schon – am Ende ist ihr Spiel die größtmögliche Form von Hingabe an den Augenblick.
Am Aurajoki ist es leise geworden. Die Blätter verfärben sich langsam. Nach dem großen Fest von Turku, an dem ich sogar ein bis dahin unsichtbar gebliebenes Domcafé entdeckte, das wohl sonst nie aufhat, ist es stiller am Ufer des Flusses geworden. Die Schiffe liegen wirklich im Hafen. Aber dennoch sind sie Spiegelungen eines menschlichen Gedankens. Niemand hat sie gebaut, damit sie im Hafen liegen bleiben. Sie liegen aber gerade sehr still hier. Und werden aufbrechen, wenn meine Blicke schon nicht mehr hier sind und die Bäume ihre Blätter verlieren.
Der unzähligen Vogelbeerbäume von Turku wegen dachte ich schon am ersten Tag immer an Marina Zwetajewa und ihre Gedichte. Dichter haben kein Land. Nur Buchstaben. Die ihre Bäume sind. Und auch das nur im Vorübergehen. Deswegen ist Marina aber immer noch hier, umverteilt auf die ganze Erde, die russische Seele, der zeitlose Kern ihrer erlebten, erhofften und erdachten, ihrer tief im Inneren erschriebenen Welt:BAUT EINER KEIN HAUS –
spuckt die Erde vor ihm aus.
Baut einer kein Haus
wird nie er zur Erde:
Erst Stroh, dann Asche im Herde...
Ich baute kein Haus.
Natürlich baut jemand, der wie Marina Zwetajewa das Sichtbare als einen Feind des Dichters ansieht, kein Haus. Er übt sich im Vorübergehen. Was ist das Sichtbare? Spiegelungen sind vielleicht alles, was wir im Außen haben können. Ein menschlicher Gedanke erschafft ein Schiff. Ein Auge sieht es. Und wie geht die Rechnung (die Spiegelung) weiter, wenn wir die Primzahlen mitdenken lassen? Vielleicht arbeiten den Zahlen diese Gedanken voraus: Ein Kind geht segeln. Mit seinen Eltern. Und mit seinen Brüdern. Sie segeln über Jahre hinweg an so vielen Küsten. Und das Kind sieht früh viele Schiffe. Es macht einen Segelschein und fürchtet das Wasser nicht. Es liebt ja Schiffe. Es dauert fast vierzig Jahre, bis das Kind, das Schiffe liebt, nach Turku kommt und an einem frühen Morgen im September begreift, dass die Schiffe, die es so früh gesehen und so früh schon geliebt hat, in einer finnischen Werft gebaut werden. Bin ich dieses Kind? Nein. Aber ich kenne und liebe seine Augen.
Die Werft ist hier ganz in der Nähe. Und bevor man zu ihr gelangt, muss man an einem Fabrikschlot vorbei. Schon am ersten Abend hatten wir ihn aus der Ferne gesehen. Und was steht auf ihm drauf? – Eine Reihe Primzahlen. Rot leuchtend in der Nacht. Rot, leise, fast wie im Schlaf, am Tag.
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