Auf einem Spaziergang Richtung Marktplatz entdecke ich einen kleinen Buchladen. Das Schaufenster sieht auf eine sympathische Weise „unordentlich“ aus, also so, wie nur Menschen Bücher auslegen, die sie lieben. Obwohl ich keines der hier präsentierten Bücher lesen kann, will ich trotzdem wissen, wie es drinnen im Laden aussieht. Wenn man etwas nicht versteht, ist es von großer Stille umsäumt. Die Stille ist wie eine Tür, die sich selbst öffnen wird. Die Tür des Buchladens ist aber schon offen, das Wetter macht es möglich – unerwartet warme Tage haben mich hier begrüßt. Und natürlich gehe ich in die Buchhandlung rein. Der Buchhändler ist gerade dabei, Feierabend zu machen. Aber findet es nicht schlimm, wenn sich Leute dabei umsehen.
Er zeigt auf ein „Masterpiece des 21. Jahrhunderts“ – Bolaño, „2666“, schon gelesen?, fragt er auf Englisch. Es ist seine Hauptempfehlung an die Leser. Seine Empfehlung ist nur nicht ganz richtig, auch seine, muss man sagen, denn eigentlich ist es die gute Patti, die es empfohlen hat. Der winzige Laden erinnert an alte Buchhändlerzeiten, in denen es keine großen Buchkaufhäuser gab, fast hätte ich gesagt – nur die Liebe der Leser.
Fünf Menschen wirken hier aber schon wie Teilnehmer einer Massenveranstaltung. Aber wegen Patti waren hier viel, viel mehr da. Nämlich ganze sechshundert Leute. Sie hat ihr neues Buch hier vorgestellt. Sie mag große Buchkaufhäuser nicht. Sie liebt diese Art von Laden. Hat ja selbst mal in New York Bücher in einem solchen Buchladen verkauft. Patti? Die Rede ist von Patti Smith, die ich offenbar nur um ein paar Tage verpasst habe, und die hier in Turku aus ihrem neuesten Buch gelesen hat – ein Buch, das von ihren Reisen handelt und mich auf meiner Reise grüßt. „M Train“ heißt das Buch. Es sind Erinnerungen. Alle Reisen sind Erinnerungen. Der Buchhändler entpuppt sich zu alledem auch noch als Verleger. Er erklärt, dass sein Verlag etwas mit Frosch heißt. Er sieht meine weißen Haare an und will wissen, ob ich eher Bolaño oder Vladimir Kaminer (den er u.a. auch verlegt) lese – ich lache. Und er sagt, aha, mehr so Susan Sonntag.
Ich genieße das Licht und die Stille in Turku. Und mir fällt nach der Begegnung mit dem Verleger-Buchhändler ein Satz von Susan Sonntag ein: „Silence remains, inescapably, a form of speech.“ Dem Buchhändler verrate ich erst am Schluss, dass ich auch Bücher schreibe. Es ist immer blöd, „auch“ zu sagen. Es sieht so aus, als würde man sich etwas vom Leben der Anderen stehlen und selbst „auch“ das tun, was die Anderen tun. Dabei macht man sich in jedem Land der Welt irgendwie immer verdächtig. Die Leute wollen wissen, ob man denn davon leben kann. Vom Schreiben. Keine Ahnung, ob man davon leben kann, ob man überhaupt von dem lebt, was der eigene Beruf ist. Mich jedenfalls hat das Schreiben nach Turku gebracht.
Und am Aurajoki trinke ich jetzt jeden Tag einen Capuccino und staune das Wunder eines Schokotörtchens an, das eine wie hinein gemalte Himbeerschicht in sich birgt – auf dem Markt werden aller möglichen Beeren verkauft. Ein Paradies für mich, die ich in Berlin immer auf die Beerensaison warte. Die Saison hat sich nun durch den Aufenthalt in Turku für mich verlängert.
Vom Frosch zu den Beeren ist es nicht weit. Auf dem Markplatz werden sie literweise verkauft. Ja, hier wird in Liter gemessen. Und mein Kopf will natürlich wissen, ob die Leute hier wissen, warum das so ist und nicht nur, dass es so ist. Ich werde mich durchfragen müssen. Patti Smith sagte in einem Interview das M in dem Titel „M Train“ stehe für mind. Das ist wohl so, weil die Gedanken reisen, die Fragen reisen, die Ideen reisen. Die letzten warmen Tage lassen den Marktplatz, die Bibliothek (wenn man einen Ausweis hat, kann man sich ein Fahrrad leihen) und die Cafés am Fluss in kostbarem Licht erscheinen. Wie wird der Winter hier sein? Und der Wind? Und die Kühle der Tage? Manchmal ist es schön, nur zu gehen, nur zu sehen und nicht alle Fragen beantwortet zu bekommen.
Comments