Kam gerade aus Helsinki zurück und hörte schon von weitem ein Murmeln von dem Zentralplatz, der vor meinem hiesigen Haus liegt. Dann sah ich darauf ein großes Zeltdach, es war bestimmt dreißig Meter lang, und darunter eine Horde von Menschen, die etwas in ihrer Mitte betrachteten. Es gab Applaus, eine Gruppe skandierte einen Namen, es klang wie Viissuwa. Eigentlich hatte ich Hunger, es nieselte leicht, ich wollte außerdem meinen Rucksack ablegen, aber natürlich schaute ich nach, was da los war.
Sie spielten Fußball, ältere Herren, direkt auf dem Kopfsteinpflaster. Die Seitenlinien und die Tore bestanden aus aufblasbaren Rollen, wie bei den Kinderhüpfburgen auf Stadtfesten, und der Ball war eine Erdkugel, ein Strandball. Die Spieler grinsten, taten ehrgeizig, wenn sie dem Ball nacheilten, und ließen sich vom Publikum zu weiterem Engagement anstacheln; man rempelte sich spaßeshalber an, schupste sich. Etwa 150 Leute sahen zu und nahmen Anteil. Über die Köpfe hinweg konnte ich nur schwer verfolgen, was wirklich vor sich ging. Ich sah nur bemützte Spieler hin und her eilen, ihre Trikots und den Erdkugelball. Was sollte das Ganze?
Ich ging um das Spielfeld herum und kam zu einer kleinen Bühne, auf der fünf Musiker saßen, Tuba, Englisch Horn, drei Posaunen. Sie hatten von ihrem erhöhten Platz das Spiel genau im Blick, und auf einmal begannen sie zu spielen, sehr getragen, einen Tusch. Das Publikum johlte, ein Tor musste gefallen sein. Das also war die Aufgabe der Musiker: Jedes Tor wurde mit einem Tusch bedacht. Diese Aufgabe nahmen sie sehr ernst und ließen das Fußballspiel nicht aus den Augen.
Und dann flog über mir ein Hausschuh hinweg, obendrein die Erdkugel. Jubel von den Zuschauern, Gelächter. Es war ein graukarierter Hausschuh, warm sah er aus. Ich habe auch mal solche besessen. Ein Spieler eilte an mir vorbei, holte sich den Hausschuh und zog ihn sich an. Durch die Lücke, durch die er zurück aufs Spielfeld kletterte, konnte ich die Schuhbekleidung der anderen Fußballspieler sehen. Alle trugen Hausschuhe, kariert, grau oder braun.
Ich stellte mich an den Spielfeldrand und sprach einen der Zuschauer an, auf Englisch, das können die meisten ja hier. Was das sei? Er nannte einen finnischen Namen, den ich nicht verstand. "They play with..." - er zeigte auf seine Schuhe. "House-shoes", sagte ich. Er lächelte: "Yes."
Und damit war anscheinend alles gesagt. Samstagnachmittag, Nieselregen, und mitten in Tampere wird Hausschuhfußball gespielt. So ist das.
Samstag, 30. Oktober 2010
Durch diese hohle Gasse muss er kommen.
... Es führt kein ander Weg nach Küssnacht, befand schon Schillers Wilhelm Tell und setzte damit Maßstäbe über enge Verhältnisse. In meinem finnischen Fall ist die hohle Gasse allerdings eine verblüffend schmale Wasserstraße zwischen zwei Schären mit den wohlklingenden Namen Susisaari und Vallisaari. Da hindurch müssen sie kommen, die großen Schiffe nach - nein, nicht nach Küssnacht, sondern nach - Stockholm. Abend für Abend rammen sie fast die Schären, Abend für Abend geht es gut. Abend für Abend stehe ich auf der südlichsten Küste von Susisaari und schaue mir die Durchfahrt an.
Auch die Passagiere scheinen kaum glauben zu können, dass man heil durch diese hohle Gasse gelangt. Wir schwenken die Arme, rufen uns gute Wünsche zu, und wenn das Schiff sich still im Abendnebel der Ostsee verliert, stehe ich noch herum und wünsche mir in aller Bescheidenheit ein Gemälde von Adolf Bock ganz für mich allein, das ich stehlen und mit nach Hause nehmen könnte.

Die Tage entfernen sich mit der Geschwindigkeit der Viking Line. Schon am Montag werde ich die vernebelte Ostsee mit einem Flieger der Air Baltic überqueren; die Kurische Nehrung wird hingebogen wie eine Wimper auf dem Salzwasser liegen; ich werde mich an die großen Kormoranschwärme erinnern, die dort reglos auf den unbelaubten Bäumen sitzen; und dann werde ich einschlafen und in Berlin aufwachen, zur Winterzeit.
Auch die Passagiere scheinen kaum glauben zu können, dass man heil durch diese hohle Gasse gelangt. Wir schwenken die Arme, rufen uns gute Wünsche zu, und wenn das Schiff sich still im Abendnebel der Ostsee verliert, stehe ich noch herum und wünsche mir in aller Bescheidenheit ein Gemälde von Adolf Bock ganz für mich allein, das ich stehlen und mit nach Hause nehmen könnte.

Die Tage entfernen sich mit der Geschwindigkeit der Viking Line. Schon am Montag werde ich die vernebelte Ostsee mit einem Flieger der Air Baltic überqueren; die Kurische Nehrung wird hingebogen wie eine Wimper auf dem Salzwasser liegen; ich werde mich an die großen Kormoranschwärme erinnern, die dort reglos auf den unbelaubten Bäumen sitzen; und dann werde ich einschlafen und in Berlin aufwachen, zur Winterzeit.
Donnerstag, 28. Oktober 2010
Bingo
Eine Beobachtung am Rande: Glücksspiele aller Art scheinen sich in Finnland großer Beliebtheit zu erfreuen. Wo auch immer ich meine Lebensmittel einkaufen gehe, entdecke ich hinter den Kassen buntblinkende Spielautomaten, in die Leute jeden Alters ihre Münzen werfen, Jugendliche, Rentner, viele Frauen. Sie verspielen das Kleingeld in ihren Taschen und hoffen wohl auf schnellen Gewinn, bevor es nach Hause geht. Auch in der Paappa Music Bar steht einer dieser Automaten herum, und ich konnte beobachten, wie sich mehrere Gäste ihre nächste Runde erspielten. Tatsächlich klimperte hin und wieder ein Gewinn in das Geldfach, den die Spieler mit regungsloser Miene herausklaubten, um dann an den Tresen zu gehen fürs nächste Bier.
Durch Zufall lernte ich gestern eine weitere Art des Glücksspiels kennen: Boxing-Bingo. Das hat weit weniger mit Boxen zu tun, als der Name es vermuten lässt. Der örtliche Boxverein finanziert sich zum Teil durch die Einnahmen, und das scheint sich zu rentieren. Als ich hineinschaute in den Raum waren die meisten Spielplätze besetzt, ein gutes Dutzend Spieler. Während ich zuvor im Kellergewölbe des Hauses eine Führung durchs Boxmuseum erlebte - auch das wäre einen Eintrag wert; vielleicht später -, hatte ich von oben ständiges Piepen und monotone Ansagen gehört und dort folglich moderne Apparaturen erwartet, Touchscreens, zumindest Flachbildschirme. Was ich aber vorfand, waren Reihen von antiquiert aussehenden, furnierten Holzschränken. Die Spieler saßen vor schräg eingelassenen Konsolen, alle in Jacke und Stiefeln, als wären sie nur auf einen Sprung hereingekommen; auch zwei ältere Damen mit gehäkelten Wollmützen sah ich dort sitzen. Grelles Neonlicht erhellte den Raum, die Vorhänge waren zugezogen. Auf einem Beistelltisch standen eine Kaffeekanne, Milch und Zucker. In zwei Zimmerecken hingen Monitore, auf denen Zahlen erschienen, die eine aufgenommene Frauenstimme verlas. Wie Besuch aus einer anderen Zeit wirkten diese Monitore in einer sonst vollkommen analogen Spielhölle. Blinkende LED-Anzeigen waren an jeder Konsole angebracht, und die Spielfelder bestanden aus Schiebetürchen, hinter denen die Zahlen zu sehen waren. Sehr konzentriert und sehr ernst widmeten die Spieler sich diesen Türchen. Es sah einfach und doch kompliziert genug aus, so dass ich nicht gleich verstand, wie das alles funktionierte. Aber ich hatte auch nicht lange Zeit. Wie immer, wenn man einen Raum betritt, in dem man eigentlich nichts verloren hat, kam ich mir wie ein ungehöriger Zuschauer vor, fast wie ein Betrüger. Ich wollte ja nicht spielen, auf keinen Fall.
Wir hatten früher auch einen Spielautomaten im Kellergang hängen. Mein Vater hatte ihn uns eines Tages mitgebracht, er fand das eine gute Idee; meine Mutter war dagegen weniger begeistert und befürchtete, die Spielsucht bei ihren Jungs zu befördern. Es hat uns wohl nicht geschadet, zumindest gehe ich heute ruhigen Gewissens an jedem dieser Geräte vorbei und kann den Reiz nur schwer nachvollziehen. Auch den Bingoraum verließ ich sehr bald. Ein einziges Foto nur habe ich mich getraut zu machen, es ist leider unscharf geworden. Trotzdem sind die beiden bemützten Damen darauf zu erkennen und vor allem ihre Blicke, mit denen sie mich - den Fotografen - betrachteten: Not amused.
Durch Zufall lernte ich gestern eine weitere Art des Glücksspiels kennen: Boxing-Bingo. Das hat weit weniger mit Boxen zu tun, als der Name es vermuten lässt. Der örtliche Boxverein finanziert sich zum Teil durch die Einnahmen, und das scheint sich zu rentieren. Als ich hineinschaute in den Raum waren die meisten Spielplätze besetzt, ein gutes Dutzend Spieler. Während ich zuvor im Kellergewölbe des Hauses eine Führung durchs Boxmuseum erlebte - auch das wäre einen Eintrag wert; vielleicht später -, hatte ich von oben ständiges Piepen und monotone Ansagen gehört und dort folglich moderne Apparaturen erwartet, Touchscreens, zumindest Flachbildschirme. Was ich aber vorfand, waren Reihen von antiquiert aussehenden, furnierten Holzschränken. Die Spieler saßen vor schräg eingelassenen Konsolen, alle in Jacke und Stiefeln, als wären sie nur auf einen Sprung hereingekommen; auch zwei ältere Damen mit gehäkelten Wollmützen sah ich dort sitzen. Grelles Neonlicht erhellte den Raum, die Vorhänge waren zugezogen. Auf einem Beistelltisch standen eine Kaffeekanne, Milch und Zucker. In zwei Zimmerecken hingen Monitore, auf denen Zahlen erschienen, die eine aufgenommene Frauenstimme verlas. Wie Besuch aus einer anderen Zeit wirkten diese Monitore in einer sonst vollkommen analogen Spielhölle. Blinkende LED-Anzeigen waren an jeder Konsole angebracht, und die Spielfelder bestanden aus Schiebetürchen, hinter denen die Zahlen zu sehen waren. Sehr konzentriert und sehr ernst widmeten die Spieler sich diesen Türchen. Es sah einfach und doch kompliziert genug aus, so dass ich nicht gleich verstand, wie das alles funktionierte. Aber ich hatte auch nicht lange Zeit. Wie immer, wenn man einen Raum betritt, in dem man eigentlich nichts verloren hat, kam ich mir wie ein ungehöriger Zuschauer vor, fast wie ein Betrüger. Ich wollte ja nicht spielen, auf keinen Fall.
Wir hatten früher auch einen Spielautomaten im Kellergang hängen. Mein Vater hatte ihn uns eines Tages mitgebracht, er fand das eine gute Idee; meine Mutter war dagegen weniger begeistert und befürchtete, die Spielsucht bei ihren Jungs zu befördern. Es hat uns wohl nicht geschadet, zumindest gehe ich heute ruhigen Gewissens an jedem dieser Geräte vorbei und kann den Reiz nur schwer nachvollziehen. Auch den Bingoraum verließ ich sehr bald. Ein einziges Foto nur habe ich mich getraut zu machen, es ist leider unscharf geworden. Trotzdem sind die beiden bemützten Damen darauf zu erkennen und vor allem ihre Blicke, mit denen sie mich - den Fotografen - betrachteten: Not amused.
Samstag, 23. Oktober 2010
Hier war kein Photoshop im Spiel! Ehrenwort!

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An diesem Wochenende ist auf Suomenlinna Feststimmung. Wie auf diesem Foto eindrücklich bewiesen ist, habe auch ich meinen bescheidenen Beitrag in Punkto neue deutsche Literatur beigetragen.
Paappa
Nun ist mir Finnland auch in den Text gerutscht, an dem ich gerade schreibe. Das war abzusehen und unvermeidlich. Es ist beinahe symptomatisch für die Art, wie das Leben manchmal ins Schreiben hineinwirkt. Immer wieder kommt es da zu gegenseitigen Beeinflussungen. Das ist keine große Sache. Meistens vergeht etwas Zeit, bis Ereignisse oder Plätze, die man gesehen hat, sozusagen auf dem Blatt ankommen; manchmal aber geht es ganz direkt. Man sucht nach einem Detail für eine Geschichte, läuft durch eine Straße und steht plötzlich davor. In diesem Haus muss die Figur leben. Hier, auf dieser Parkbank, treffen sie sich. Das ist der Laden, in dem sie einkauft. Kurz gefasst ist mir das so mit dem "Paappa Music Pub" gegangen, der nun also in meinem Roman auftaucht.
Es ist die bekannteste Jazz-Kneipe von Tampere. Sieben Tage in der Woche gibt es hier traditionellen Jazz zu hören. Viele Touristen verirren sich hierher, und es sieht auch gemütlich von außen aus: Tische, Stühle, eine Bar und eine Musikerecke, in der die Bands Platz finden müssen. Als ich diese Ecke durchs Fenster sah, wusste ich auf einmal, dass meine Hauptfigur hier spielen würde, er und seine kleine Band. Warum nicht? Andererseits: Warum? Und genau das ist als Autor mitunter schwer zu sagen. Es fühlt sich im Moment einfach richtig an.
Im Grunde ist es nur ein Detail ohne größere Bedeutung. Aber - immerhin - bis vor ein paar Tagen war mir nicht ganz klar, aus welcher Himmelsrichtung meine Hauptfigur im zweiten Romanteil eintreffen wird. Nun weiß ich, dass er aus dem Norden zurückkommt, aus dieser Stadt. Mehrere Tage hat er mit seiner Band hier gespielt, und ich kam nicht umhin, ihn eine Postkarte nach Hause schicken zu lassen an seine langjährige beste Freundin. Industrieanlagen sind darauf zu sehen, rauchende Schlote, und einen einzigen Satz hat er ihr geschrieben, der sie doch etwas ratlos sein lässt: "Die Finnen spinnen."
Denn - das weiß doch jeder: Das stimmt ganz und gar nicht.
Es ist die bekannteste Jazz-Kneipe von Tampere. Sieben Tage in der Woche gibt es hier traditionellen Jazz zu hören. Viele Touristen verirren sich hierher, und es sieht auch gemütlich von außen aus: Tische, Stühle, eine Bar und eine Musikerecke, in der die Bands Platz finden müssen. Als ich diese Ecke durchs Fenster sah, wusste ich auf einmal, dass meine Hauptfigur hier spielen würde, er und seine kleine Band. Warum nicht? Andererseits: Warum? Und genau das ist als Autor mitunter schwer zu sagen. Es fühlt sich im Moment einfach richtig an.
Im Grunde ist es nur ein Detail ohne größere Bedeutung. Aber - immerhin - bis vor ein paar Tagen war mir nicht ganz klar, aus welcher Himmelsrichtung meine Hauptfigur im zweiten Romanteil eintreffen wird. Nun weiß ich, dass er aus dem Norden zurückkommt, aus dieser Stadt. Mehrere Tage hat er mit seiner Band hier gespielt, und ich kam nicht umhin, ihn eine Postkarte nach Hause schicken zu lassen an seine langjährige beste Freundin. Industrieanlagen sind darauf zu sehen, rauchende Schlote, und einen einzigen Satz hat er ihr geschrieben, der sie doch etwas ratlos sein lässt: "Die Finnen spinnen."
Denn - das weiß doch jeder: Das stimmt ganz und gar nicht.
Träum ich oder wach ich?
Hätte ich die Zugfahrt von Helsinki nach Tampere nicht so angenehm verschlafen, dass ich nur ab und zu kurz die Augen öffnete und einen azurblauen See am Zugfenster vorüberfliegen sah; wäre ich also nicht so verschlafen gewesen, hätte ich meine Rückfahrkarte sicher nicht in die Sitztasche vor mir gesteckt und sie dort vergessen. Und dann wäre alles anders gekommen.
Dann hätte ich auch einen anderen Sitzplatz gehabt. Denn weil die Züge in diesem unterbevölkerten Staat sonderbarerweise recht überfüllt sind, kauft man sich am besten eine Platzreservierung zur Fahrkarte dazu. Als mich die Bahnangestellte hinter dem Schalter fragte, ob ich eine Tierhaarallergie hätte, war mir der Zusammenhang zwischen ihrer Frage und meiner Platzkarte nicht sofort klar. Und auch dieses kleine blaue Schild hier habe ich erst gesehen, als es schon zu spät war:

Aber eine erste Ahnung kam unmittelbar nach dem Hinsetzen auf, als eine riesige Schäferhündin ihren schweren Kopf in meinen Schoß legte und mich durchdringend anschaute. Gleich aber wurde sie von einem handtaschengroßen Zwergrüden abgelenkt, der vom Arm seiner Besitzerin auf den Platz uns gegenüber sprang und es sich gemütlich machte. Und es wurde auch gemütlich. Der Kleine bewegte aufgeregt das Köpfchen hin und her und erinnerte mich lebhaft an einen kleinen Roboter auf der Suche nach einer Aufgabe im Haushalt. Aber es gab auch viel zu bestaunen, und gemeinsam mit dem Roboterhund bestaunte ich die Vielzahl an Katzenkörbchen vor den benachbarten Sitzen, aus denen gelegentlich eine Bewohnerin mit sphinxartiger Miene herausblickte.
Auch die Menschen selbst nahmen sich irgendwie animalisch aus. So beobachteten wir eine Dame, die die gesamte Zugfahrt über in ein Zwiegespräch mit ihrem Pudel vertieft war, während ihre Tochter aus dem Sitz daneben nur drei knapp formulierte Befehle abbekam. Eine andere Dame war über und über mit den Haaren ihrer vier Promenadenmischungen bedeckt. Die riesige Schäferhündin war davon nicht aus der Fassung zu bringen. Friedlich bettete sie ihren schweren Kopf auf meinem Stiefel und hob ihn nur ab und zu, um die azurblauen Seen am Zugfenster vorüberfliegen zu sehen. Den Rest der Fahrt verbrachte sie in tiefem, traumlosen Schlaf.
Dann hätte ich auch einen anderen Sitzplatz gehabt. Denn weil die Züge in diesem unterbevölkerten Staat sonderbarerweise recht überfüllt sind, kauft man sich am besten eine Platzreservierung zur Fahrkarte dazu. Als mich die Bahnangestellte hinter dem Schalter fragte, ob ich eine Tierhaarallergie hätte, war mir der Zusammenhang zwischen ihrer Frage und meiner Platzkarte nicht sofort klar. Und auch dieses kleine blaue Schild hier habe ich erst gesehen, als es schon zu spät war:
Aber eine erste Ahnung kam unmittelbar nach dem Hinsetzen auf, als eine riesige Schäferhündin ihren schweren Kopf in meinen Schoß legte und mich durchdringend anschaute. Gleich aber wurde sie von einem handtaschengroßen Zwergrüden abgelenkt, der vom Arm seiner Besitzerin auf den Platz uns gegenüber sprang und es sich gemütlich machte. Und es wurde auch gemütlich. Der Kleine bewegte aufgeregt das Köpfchen hin und her und erinnerte mich lebhaft an einen kleinen Roboter auf der Suche nach einer Aufgabe im Haushalt. Aber es gab auch viel zu bestaunen, und gemeinsam mit dem Roboterhund bestaunte ich die Vielzahl an Katzenkörbchen vor den benachbarten Sitzen, aus denen gelegentlich eine Bewohnerin mit sphinxartiger Miene herausblickte.
Auch die Menschen selbst nahmen sich irgendwie animalisch aus. So beobachteten wir eine Dame, die die gesamte Zugfahrt über in ein Zwiegespräch mit ihrem Pudel vertieft war, während ihre Tochter aus dem Sitz daneben nur drei knapp formulierte Befehle abbekam. Eine andere Dame war über und über mit den Haaren ihrer vier Promenadenmischungen bedeckt. Die riesige Schäferhündin war davon nicht aus der Fassung zu bringen. Friedlich bettete sie ihren schweren Kopf auf meinem Stiefel und hob ihn nur ab und zu, um die azurblauen Seen am Zugfenster vorüberfliegen zu sehen. Den Rest der Fahrt verbrachte sie in tiefem, traumlosen Schlaf.
Mittwoch, 20. Oktober 2010
Moscow-Bar
Ein kleiner Zeitsprung: So in etwa stellt sich der Unwissende eine Bar im Kalten Krieg vor, irgendwo im Osten, in Wladiwostok zum Beispiel, Kaliningrad, vor langer Zeit. Diese Bar aber liegt im Zentrum von Helsinki, jetzt und heute, die "Moscow-Bar". Ein einziger Raum ist es, paar Tische, ein Tresen, dahinter eine Musik-Box, alte Schallplatten mit russischer Volksmusik, grellfarbige Neonleuchten an den Wänden, eine übellaunige Bedienung, die die meiste Zeit in irgend einem Hinterzimmer verschwunden bleibt. Das Bier kostet 5,20 Euro, was für Innenstadtlage ganz akzeptabel sei. Das erfuhr ich von S. und A., die nach der Lesung im Goethe-Institut mit mir hierher gegangen waren.
Wir saßen eine Weile an unserem Tisch, plauderten über Kritiker und Übersetzer und dies und das, als ein bärtiger Mann hereinkam, der S. fröhlich begrüßte. S. stellte ihn uns als Übersetzer aus dem Russischen vor, als einen guten. Der Übersetzer war sehr freundlich - "ah, you are a german writer!" - und erzählte, dass bald einige Freunde von ihm eintreffen würden. Ein berühmter russischer Regisseur sei ihr Gast, der für ein Filmfestival nach Helsinki gekommen sei. "Beautiful, beautiful, you will meet him. He is a big fan of Kaurismäki." (Den Kaurismäki-Brüdern gehört im übrigen die "Corona"-Bar gleich nebenan.) Er verschwand an den Tresen, und S. flüsterte mir zu: "Sei vorsichtig" - obwohl das, was er nicht wissen konnte, nicht nötig war. Ich bin meistens vorsichtig.
Es dauerte nicht lange, bis die Russen kamen und den Raum zur Musik nun auch mit der passenden Sprache beschallten. Sie legten gleich los, kaum dass sie saßen. Ich habe das lange nicht gesehen; es war sehr zielstrebig, wie sie da tranken. Nicht viel später stand eine Frau auf und kam zu uns herüber. "You are a famous german writer I hear", sagte sie. Ich zögerte. "I'm german and I'm a writer, yes", sagte ich. Sie war begeistert und überhörte geflissentlich die Auslassung des Wortes "famous". An ihrem Tisch, erklärte sie, sitze ein berühmter russischer Regisseur, ob wir nicht zu ihnen herüber kommen wollten. S. flüsterte mir erneut zu: "Sei vorsichtig." Wir schwiegen, die Frau lächelte: "When you are drunk enough, you come over."
Am Russentisch wurde fleißig weiter getrunken, während wir uns an unsere 5,20-Euro-Biere hielten. Man beachtete uns nicht. Niemand blickte zu uns herüber, sie waren zu beschäftigt, und als sie schließlich aufstanden und aufbrachen, blieb der Übersetzer erneut bei uns stehen, sprach uns an, diesmal nicht mehr ganz Herr seiner Mundpartie und des Sprachzentrums. "Schöen", sagte er versuchsweise auf Deutsch. "Schöeen." Famous german writer - russian famous regisseur. Wir würden uns sicher noch treffen. Später, irgendwo. Oder ob wir nicht mitkommen wollten? S. erneuter Blick zu mir. "Oh, good. Wonderful!" Und damit verschwand der Übersetzer und seine Freunde aus der Bar, wir blieben sitzen. Es lief keine Musik mehr.
Dass wir später nicht nachgekommen sind und ihn sowie seine Freunde nicht getroffen haben, wird ihn nicht zu sehr betroffen gemacht haben. Er wird andere Trinkpartner gefunden haben; es ging ja nicht um uns im Speziellen. Er wollte lediglich Gesellschaft haben, denke ich mir, ein Wunsch, der wohl seiner russischen Seele entsprach, in etwa so, wie Tim Fischer es in dem Lied über den Großfürsten Stroganoff singt: "Das ist russisch, echt russisch. Jeder Russe, der hat Seele. - Was weiß ich! Chey Chey!"
Warum ich das erzähle? Weil das mein Helsinki-Erlebnis war.
Wir saßen eine Weile an unserem Tisch, plauderten über Kritiker und Übersetzer und dies und das, als ein bärtiger Mann hereinkam, der S. fröhlich begrüßte. S. stellte ihn uns als Übersetzer aus dem Russischen vor, als einen guten. Der Übersetzer war sehr freundlich - "ah, you are a german writer!" - und erzählte, dass bald einige Freunde von ihm eintreffen würden. Ein berühmter russischer Regisseur sei ihr Gast, der für ein Filmfestival nach Helsinki gekommen sei. "Beautiful, beautiful, you will meet him. He is a big fan of Kaurismäki." (Den Kaurismäki-Brüdern gehört im übrigen die "Corona"-Bar gleich nebenan.) Er verschwand an den Tresen, und S. flüsterte mir zu: "Sei vorsichtig" - obwohl das, was er nicht wissen konnte, nicht nötig war. Ich bin meistens vorsichtig.
Es dauerte nicht lange, bis die Russen kamen und den Raum zur Musik nun auch mit der passenden Sprache beschallten. Sie legten gleich los, kaum dass sie saßen. Ich habe das lange nicht gesehen; es war sehr zielstrebig, wie sie da tranken. Nicht viel später stand eine Frau auf und kam zu uns herüber. "You are a famous german writer I hear", sagte sie. Ich zögerte. "I'm german and I'm a writer, yes", sagte ich. Sie war begeistert und überhörte geflissentlich die Auslassung des Wortes "famous". An ihrem Tisch, erklärte sie, sitze ein berühmter russischer Regisseur, ob wir nicht zu ihnen herüber kommen wollten. S. flüsterte mir erneut zu: "Sei vorsichtig." Wir schwiegen, die Frau lächelte: "When you are drunk enough, you come over."
Am Russentisch wurde fleißig weiter getrunken, während wir uns an unsere 5,20-Euro-Biere hielten. Man beachtete uns nicht. Niemand blickte zu uns herüber, sie waren zu beschäftigt, und als sie schließlich aufstanden und aufbrachen, blieb der Übersetzer erneut bei uns stehen, sprach uns an, diesmal nicht mehr ganz Herr seiner Mundpartie und des Sprachzentrums. "Schöen", sagte er versuchsweise auf Deutsch. "Schöeen." Famous german writer - russian famous regisseur. Wir würden uns sicher noch treffen. Später, irgendwo. Oder ob wir nicht mitkommen wollten? S. erneuter Blick zu mir. "Oh, good. Wonderful!" Und damit verschwand der Übersetzer und seine Freunde aus der Bar, wir blieben sitzen. Es lief keine Musik mehr.
Dass wir später nicht nachgekommen sind und ihn sowie seine Freunde nicht getroffen haben, wird ihn nicht zu sehr betroffen gemacht haben. Er wird andere Trinkpartner gefunden haben; es ging ja nicht um uns im Speziellen. Er wollte lediglich Gesellschaft haben, denke ich mir, ein Wunsch, der wohl seiner russischen Seele entsprach, in etwa so, wie Tim Fischer es in dem Lied über den Großfürsten Stroganoff singt: "Das ist russisch, echt russisch. Jeder Russe, der hat Seele. - Was weiß ich! Chey Chey!"
Warum ich das erzähle? Weil das mein Helsinki-Erlebnis war.
Montag, 18. Oktober 2010
Leser, die des Finnischen kundig sind, überspringen bitte diesen Eintrag. Kamppi.
Auf der Fähre von Suomenlinna nach Kauppatori setze ich mich gern vor die Einheimischen, um unaufdringlich ihrem Finnisch zu lauschen. Ihre Sprache klingt wie eine geordnete Ansammlung kleiner Kiesel, die über andere Kiesel hinwegrollt. Die verehrte Leserschaft kann mit diesem etwas extravaganten Bild sicher nicht wirklich etwas anfangen und das kann ich verstehen, also versuche ich es etwas fundierter: Mir gefällt die Deutlichkeit der finnischen Sprache, die dadurch entsteht, das jedem Laut nur ein einziger Buchstabe entspricht und jedem Buchstaben nur ein einziger Laut - abgesehen von n und g, die wie im Deutschen zu ng zusammengezogen werden. Außerdem kann man alle Vokale und fast alle Konsonanten lang oder kurz aussprechen, in der Schriftsprache setzt man sie dann doppelt. Das ergibt vor allem bei den Konsonanten eine kitzelige Verzögerung, die mich begeistert. Wohl dem Finnen namens Heikki, dessen Frau seinen Vornamen als kleinen Kiesel zärtlich im Mund trägt.
Aber kompliziert ist die finnische Sprache der Autorin, die sich erst seit einer Woche in ihr übt! Gestern ertappte ich mich dabei, wie ich schon den ganzen Tag und in schönster Deutlichkeit statt "Kiitos" (Danke) "Kamppi" sagte - das ist der Name eines hiesigen Einkaufszentrums. Auch mein Langenscheidt-Sprachführer führt mich in die Gefilde des Irrwitzes, denn wann werde ich jemals folgenden Satz gebrauchen? "Kuivaajan alla on liian kuuma" (Es ist zu heiß unter der Haube.) Merken sollte ich mir allerdings den Satz "Kuinkalämmintä vesi on?" (Wie warm ist das Wasser?), denn gestern sprang ich nach der Sauna in einen See, der nur 4 Grad warm war. Die Finnen schwammen so entspannt ihre Runden, das hatte dem Wasser so einen warmen Anschein gegeben.
Fazit: Ich brauche eindeutig mehr Recherchezeit für die ersten klaren Aussagen über die finnische Sprache. Fürs erste reicht es nur für weitere extravagante Vergleiche: Die finnische Sprache ist von einer ebensolchen strengen Schönheit wie die Gewölbedecke der Uspenski Kathedrale in Helsinki. Und sie ist von einer Klarheit wie das finnische Wort für die Spiegelung von Mondlicht auf dem Wasser. Wörtlich übersetzt man das mit etwas wie "Mondbrücke". Aber wie das Wort nun heißt, habe ich schon wieder vergessen. Und im Deutschen existiert es einfach nicht.
Aber kompliziert ist die finnische Sprache der Autorin, die sich erst seit einer Woche in ihr übt! Gestern ertappte ich mich dabei, wie ich schon den ganzen Tag und in schönster Deutlichkeit statt "Kiitos" (Danke) "Kamppi" sagte - das ist der Name eines hiesigen Einkaufszentrums. Auch mein Langenscheidt-Sprachführer führt mich in die Gefilde des Irrwitzes, denn wann werde ich jemals folgenden Satz gebrauchen? "Kuivaajan alla on liian kuuma" (Es ist zu heiß unter der Haube.) Merken sollte ich mir allerdings den Satz "Kuinkalämmintä vesi on?" (Wie warm ist das Wasser?), denn gestern sprang ich nach der Sauna in einen See, der nur 4 Grad warm war. Die Finnen schwammen so entspannt ihre Runden, das hatte dem Wasser so einen warmen Anschein gegeben.
Fazit: Ich brauche eindeutig mehr Recherchezeit für die ersten klaren Aussagen über die finnische Sprache. Fürs erste reicht es nur für weitere extravagante Vergleiche: Die finnische Sprache ist von einer ebensolchen strengen Schönheit wie die Gewölbedecke der Uspenski Kathedrale in Helsinki. Und sie ist von einer Klarheit wie das finnische Wort für die Spiegelung von Mondlicht auf dem Wasser. Wörtlich übersetzt man das mit etwas wie "Mondbrücke". Aber wie das Wort nun heißt, habe ich schon wieder vergessen. Und im Deutschen existiert es einfach nicht.

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