To begin at the beginning: Bevor ich über Helsinki schreiben kann, muss ich aus lauter Ehrlichkeit die Türschilder aufmalen, auf denen steht, was sich in den Räumen meines inneren Hauses befindet. Am 5. Oktober 2013 bewohnt einen kleinen Raum noch der deutsche Wahlkampf, es ist aber nur ein Durchgangszimmer zum Europaraum. Wenn hier die Tür geöffnet ist, wehen meine Ängste ein und aus, davor dass ganze Länder handlungsunfähig werden und beherrscht werden von einem Konsens, der allein auf Wirtschaftskraft beruht. Den Europaraum gibt es schon lange, sein Zettelkasten an der Wand quillt über. Es gibt eine Karte an der Wand, auf der das Mittelmeer verbrannt ist, ein Loch mit schwarzem Rand. Außerdem gibt es in meinem inneren Haus eine Tür, auf der „Kosovo“ steht. Gehe ich hier hinein, stehe ich auf einer Treppe, die hinunterführt auf die Straße. Autolärm. Kosovo ist öffentlicher Raum. Ich bin dieses Jahr durch den Hochsommer von Prishtina gelaufen, um für einen neuen Roman zu recherchieren. Auch die albanischen Alpen sieht man in der Ferne. Der größte Raum meines inneren Hauses heißt derzeit aber „Gotland“. Er ist mit einer Glaswand in der Mitte geteilt. Auf einer Seite liegen große Steine, stehen Felsen und dazwischen edle Birkenmöbel – auf der anderen Seite fließt das Meer. Ich kann mich an der Tür entscheiden, ob ich den Raum durchschreiten oder durchschwimmen will. Am 14. September habe ich zuletzt in der gotländischen Ostsee gebadet. Mein Raum ist in Abendstimmung getaucht, das letzte goldene Glühen auf den windschiefen Kiefernstämmen am Ufer.
Ich war mit meiner Freundin und unserem Sohn auf der Insel. Vier Wochen lang haben wir jeden Tag vom Quartier die Sonne über dem Meer untergehen sehen. Vielleicht ein Problem für diese Reise: Als ich in Helsinki lande, brauche ich das Meer gar nicht, es ist in mir.
Und hier kommt noch eine Angst um die Ecke. Reiseführerangst. Sie spielte im Kosovo keine Rolle, auch auf Gotland kaum, solange man um die Stadtmauer Visbys einen Bogen machte. An meinem ersten Helsinkitag ist sie allgegenwärtig. Ich wollte mich nicht vorbereiten, aber es wimmelte doch überall von Tops, Highlights, must haves und can’t miss. Konsequenterweise gehört die Festungsinsel Suomenlinna, auf der ich untergebracht bin, gleich dazu. Aus dieser Reiseführerangst heraus habe ich Freunde und Verbündete von Freunden angeschrieben, sie mögen mir von Helsinki keine Bilder zeigen, sondern Geräusche und Gerüche. Es gilt die Frage: Welchen Gedanken an deine Stadt kannst du nicht ohne Tonspur oder Duft denken?
Im Südhafen, wo mein Schiff gen Suomenlinna in den nächsten drei Wochen an- und ablegen wird, ist derzeit Heringsfest. Hier gäbe es viele Düfte zu notieren, denn es wird gebraten und gedünstet, es liegt frischer Lachs neben geräuchertem und mariniertem. Die Verkäufer halten sich an die Fischpreisbindung, und es gibt auch die Sanddornsaftpreisbindung. Timo Jaakkola aus Kotka verkauft mir Valkosipulisilakka, was Knoblauchhering heißen soll. (Dass selbst auf kleinen Verpackungen alles ins Schwedische übersetzt ist, wusste ich nicht – und wird mir das Leben um vieles einfacher machen.)
6. Oktober. Das Goethe-Institut hat mich eingeladen, also führt mein erster Spaziergang auf Umwegen zu ihnen. Der Bibliothekar erklärt mir die Farben von finnischen Hausherrnwimpeln (Isännänviiri), die auch auf Gotland so zahlreich hingen, dass mein kleiner Sohn nicht mehr von den Fahnen loskam und jede kommentieren musste. Der Bibliothekar jedenfalls heißt mit Vornamen Heikki, und somit genauso wie mein äußeres Haus auf Suomenlinna, die Stube, in die man mich einquartiert hat. „Heikki“ steht dort auf dem Briefkasten. Natürlich habe ich erst jetzt die Idee, den Blog mit meinen inneren Zimmern zu beginnen.
Im Viertel Kamppi die erste Vorstellung davon gewonnen, wie stark der Jugendstil tatsächlich ist. Jede zweite Fassade ist entweder ornamentiert oder hat eine Prägung im Stein vorzuzeigen. Ich mag das viel zu sehr, um darüber zu schreiben. Bin dann südlich gegangen, über den Hof einer Kaffeerösterei, die Telakkakatu hinab auf einem Sandweg zwischen Straßen. Einen eingezäunten Auslauf nur für „große Hunde“ gibt es dort, und dann sah ich in der Ferne eine Flammenschale, zehn Meter hoch in der Luft hielten drei Betonsäulen ein Feuer. Sechzig Jahre nach den Olympischen Spielen? Es war dann aber die ganz alte Nummer mit der Kerze und dem Seemann, die wir Norddeutschen so lieben. Habe ich schon geschrieben, dass „Norddeutschland“ das große Wohnzimmer meines inneren Hauses ist? Ein Zimmer über der Elbe, an einer Flussbiegung, mit Panoramafenster. Denn auch nach zwanzig Jahren Berlin habe ich mich nicht an den Spreebach gewöhnt.
Die ewige Kerze also, ein Denkmal für verstorbene Seemänner. Ich ging am Ufer nach Osten, und weit vor den Docks der großen Pötte, die aus Tallinn und Stockholm kommen, beginnt bereits der Hafenplatz für Motor- und Ruderboote. Von hier, dem Merisatama, kommen die ersten beiden Sounds meiner Reise. Das helle Glucksen unter dem Kiel eines Ruderboots, während es von den Docks auf Munkholmen herüber dengelt (7. Oktober 2013, 16:37 Uhr). Ursininkallio_GlucksenundDock.m4a
Und die Unterhaltung zweier Holzstegscharniere. Der Steg verbindet das feste Ufer mit dem schwimmenden Bootskai (16:50 Uhr). StegimDialog.m4a
Montag, 7. Oktober 2013
Jan Böttcher: Merisatama
Kommentare
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Gibt es im Goethe-Institut auch einen Kicker?
#1
Mikko Fritze
am
08.10.2013 13:11
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